
Kollege Sven Rosswog aka. Svensyntetics hat das Buch FERNE ZIELE für AMZONA.de ausführlich und sehr positiv besprochen.
Der vollständige Artikel kann hier gelesen werden.
Kollege Sven Rosswog aka. Svensyntetics hat das Buch FERNE ZIELE für AMZONA.de ausführlich und sehr positiv besprochen.
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An dieser Stelle werden exklusiv Auszüge aus Bernd Kistenmachers Buch “FERNE ZIELE – Geschichten über die Berliner Schule für elektronische Musik” veröffentlicht. Diese Aktion soll dabei helfen, dieses beinahe 800 Seiten starke Werk besser kennenzulernen und darauf neugierig zu machen. Ihr dürft euch also auf eine Menge spannender und interessanter Geschichten rund um die Berliner Schule für elektronische Musik freuen.
Weiter geht es mit einem Auszug aus einem der letzten Gespräche mit dem Berliner Gitarristen Manuel Göttsching.
“Gespräch mit Manuel Göttsching vom 23.01.2020
Manuel, Du bist in Westend geboren?
Geboren bin ich in Friedenau. Das ist der südlichste Zipfel von Schöneberg, gar nicht weit weg, wo du jetzt wohnst. Laubacher Straße. Da bin ich die ersten neun Jahre aufgewachsen und dann sind meine Eltern nach Westend gezogen.
Auf welche Schule bist Du da gegangen?
Meine Grundschule in Westend war die Steuben-Schule, in der Westendallee, fast an der Heerstraße. Später kam ich auf das Erich-Hoepner-Gymnasium. Das ist in der Bayernallee, fast am Theodor-Heuss-Platz.
Waren Deine Eltern musikalisch? Haben die Dich irgendwie an die Musik herangebracht oder hast Du das selber für Dich entdeckt?
Meine Mutter war in ganz jungen Jahren Schauspielerin, hatte Tanz- und Gesangsausbildung, und war so eine Art Kinderstar. Sie hat Theater gespielt, und auch in ein paar Filmen mitgemacht in den Dreißigerjahren. Sie hat dann zwar mit vierzehn, fünfzehn Jahren aufgehört, hat aber immer die Liebe zum Theater behalten und sie hat mich schon als Kind ganz oft mitgenommen, ins Theater, in die Oper. Verdi, Puccini, das war mir alles vertraut, das hörten wir auch zu Hause im Radio gern. Ihr Bruder war zeitweise Organist in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, und bei ihren Vorfahren waren eine Reihe von Kirchenmusikern und Organisten.
Und Dein Vater?
Von meinem Vater habe ich mehr das Verständnis für technische Zusammenhänge gelernt. Er war Ingenieur und leitete das Versuchslabor am Lehrstuhl von Professor Kienzle an der TU, für Maschinenbau, Feinmechanik. Da hat er dann auch seinen Doktor gemacht und später Professor. Damals hieß sie noch Technische Hochschule (eine der ältesten Deutschlands), ab 1946 dann TU. Mein Vater war Bastler, Erfinder, Praktiker, hatte immer seine eigene Werkstatt im Haus, Drehbank, Funkstation, damit wuchs ich auf, da habe ich schon als Kind löten und morsen gelernt. Aber auch er hatte eine musikalische Ader, er konnte Klavier spielen, und er konnte sehr gut Schach spielen. Das habe ich auch von ihm gelernt. Sein Vater, also mein Großvater, muss künstlerisch sehr begabt gewesen sein. Leider habe ich den nicht mehr kennengelernt, er starb vor meiner Geburt. Es gibt wunderschöne Aquarelle von ihm im Nachlass, und er hat Gitarre gespielt. Er ist in seiner Jugend durch die Schweiz gezogen, durch die Berge, auf Wanderschaft sagte man damals. Aber es gab noch seine alte Gitarre, und die hatte ich schon als Kind mal ausprobiert. In der Wohnung, in der ich großgeworden bin, eine riesen 8-Zimmer Wohnung in der Laubacher Straße stand auch ein Klavier. Ich durfte aber nicht darauf spielen, weil das natürlich nur Krach machte. Aber, sobald alle weg und niemand zuhause war, habe ich natürlich probiert und versucht darauf zu spielen. Später, in Westend, kam dann jemand in die Schule, das war noch in der Grundschule, 1962 muss das gewesen sein, und machte Reklame für die Musikschule Charlottenburg in der Platanenallee und für Unterricht in Instrumenten wie Blockflöte, Gitarre, Klavier. Ich fand das interessant und habe dann meiner Mutter vorgeschlagen, „ich würde das gerne machen, z.B. Gitarre“. Und sie sagte „gut, Gitarre ist nicht so laut zuhause, das geht vielleicht“. Fand sie ok, aber es war eigentlich meine Idee. Und dann hat sie das auch unterstützt, als sie gemerkt hat, dass ich da tatsächlich regelmäßig hingehe, und dass das nicht nur so dumme Flausen sind. Im ersten Jahr habe ich dann noch diese alte Wandergitarre von meinem Opa gespielt.
Wie hieß Deine Lehrerin?
Das war Frau Scheibitz. Vielleicht hat Lüül dir davon erzählt? Wir hatten die gleiche Gitarrenlehrerin, er war nämlich auch bei der. Da habe ich Lüül das erste Mal gesehen. Da kannten wir uns noch nicht. Da waren wir so zwölf Jahre alt. Ich kam zu meinem Unterricht einmal in der Woche und da saß er, damals schon typisch mit seinen ganz hellen, blonden langen Haaren. Wir haben uns darüber später oft amüsiert, dass wir die gleiche Gitarrenlehrerin hatten. Er war, glaube ich, nicht so lange dabei, aber auch ein paar Jahre. Ich habe da nicht fürchterlich geübt, aber ich fand das irgendwie toll für mich. Einmal die Woche war ganz entspannend. Und die Lehrerin war echt klasse, die war zwar streng auf eine Art, also formal streng, wie man Gitarre und vor allen Dingen klassische Konzertgitarre spielt. Da gab es nichts mit Barré-Griffen und Popmusik und so weiter. Da hat sie sich strikt geweigert. Der Unterricht ging auch sehr langsam, sehr gründlich. Jede Saite einzeln. Heute nehmen wir mal den nächsten Ton, spiel mal diesen Ton.
Naja, immerhin baut man ein Grundwissen auf.
So mache ich das heute mit meinem Enkel. So habe ich es auch gelernt. Junge Menschen sind immer ungeduldig und wollen natürlich sofort loslegen, sag mal wie geht so ein Akkord und dann bum bum bum. Dann sage ich nein nein, so geht es nicht, so funktioniert das nicht. Wenn du es richtig lernen willst, machst du dir nur die Finger kaputt, die Hände und die Haltung und so weiter. Und meine Lehrerin war ganz genauso. Irgendwie gefiel mir das, die war so ganz ruhig und war nett, immer freundlich und geduldig. Ich blieb über sechs Jahre bei dem Unterricht.
Aber parallel dazu hast Du dann auch schon Band eine gehabt?
Das fing später an, 1966. Durch Frau Scheibitz, hatte ich kurioserweise schon mal von Konrad Latte gehört. Er leitete wohl auch so eine Art Zupforchester oder Lautenorchester. Und die Frau Scheibitz gab ja auch Lauten-Unterricht.
Kanntest Du Konrad Latte noch persönlich?
Nein, ich kann mich nicht erinnern. Ich habe ein paarmal kleine Auftritte, nicht solo aber mit anderen Kindern zusammen gehabt. Mit drei oder vier Gitarren. Die haben wir dort in der Musikschule Charlottenburg in der Platanenallee gemacht und die Eltern kamen halt und guckten, wie sich die Kinder so machen.
Das ist durchaus charakterbildend, denn du musst dich vor anderen präsentieren. Da ist schon ein wenig Druck da.
Ja, aber das hat mich noch nie so aufgeregt, schon als Kind habe ich in der Wohnung Laubacher Straße mit meinem Freund Jürgen, der wohnte vis-à-vis und war ein Jahr jünger als ich, eine Art Weihnachtsspiel erfunden, für die Eltern und Omas und Opas und Onkels und Tanten. Da war in der Wohnung viel Platz und da war immer viel los. So haben wir die Weihnachtsgeschichte als zwei Personenspiel aufgeführt, mit Verkleidung und Gedichte aufsagen. Das war alles spielerisch und wir haben uns königlich amüsiert.
Also keine Scheu.
Nein, in der Schule habe ich auch ein paar solcher Aufführungen gemacht, und bei einigen Theateraufführungen war ich auch dabei. Und ich habe mit einem Freund einen Film gedreht. Nee, das fand ich immer spannend und interessant.
Und wann hast Du Hartmut Enke kennengelernt?
Hartmut habe ich in der fünften, sechsten Klasse kennengelernt. Da kam er auf meine Schule (Steuben-Grundschule), Hartmut wohnte ja nicht in Westend. Hartmut kam von der Mommsenstraße, unweit vom S-Bahnhof Charlottenburg, da ist er großgeworden.
Wow, das ist alte Ecke meiner Familie, Waitzstraße, Sybelstraße, da ist meine Familie gewesen. Deswegen kenne ich die ganze Gegend.
Ja, Mommsenstraße 34, da gab es ein Restaurant, das hieß Tegernseer Tönnchen. Kennst Du das noch?
Na klar kenne ich das.
Und da drüber wohnte Hartmut.
Ehrlich? Das ist ja ein Zufall.
Und da haben wir mit der ersten Band geübt und unsere ersten Auftritte gemacht.
Ich sage ja, die Kreise schließen sich alle. Es ist unglaublich. Tegernseer Tönnchen. Das gibt es aber da nicht mehr.
Nein, da ist jetzt eine Galerie.
Meine Eltern und mein Opa, die sind alle immer ins Tönnchen gegangen.
Ja und Hartmut wohnte da im zweiten Stock. Seine Mutter hat ihn dann auf diese Schule in Westend geschickt, ich glaube, weil da Latein erste Fremdsprache war.
Ist ja auch ein Schulweg, oder? Von der Mommsenstraße bis nach Westend.
Da fuhr damals noch die Straßenbahn. Da stiegst du in die Straßenbahn, Kant- Ecke Wilmersdorfer Strasse ein, und die fuhr dann die Kantstrasse hoch und die Heerstraße runter bis nach Spandau, und am S-Bahnhof Heerstraße konntest du bequem aussteigen.
Stimmt, die Wilmersdorfer Straße war ja noch keine Fußgängerzone damals. Das kenne ich alles noch.
Hartmut war zuerst in einer Parallelklasse und meine früheste Erinnerung an ihn ist wie Hartmut in der ersten Turnstunde draußen auf dem Schulhof nur mit seinen nagelneuen Turnschuhen kämpfte, die hatten so extrem lange Schnürsenkel und er wusste nicht wo er die rumwickeln sollte, damit er nicht drüber stolpert, während wir alle im Kreis rumrannten. Vielleicht war ihm das auch ganz recht, dass er nicht mitrennen musste, sportlich war er ja nie im Leben. In meine Klasse kam er erst 1966 auf dem Erich-Hoepner Gymnasium / 8. Klasse. Er war damals sehr modebewusst, immer super schick angezogen, es mussten die neuesten und modernsten Klamotten sein, die es gab.
Ein kleiner Pfau.
Ja, ein bisschen war er das damals schon. Das ist interessant, seine spätere Entwicklung, wo das total gekippt ist, und wo er sich wirklich nur in ein Bettlaken gewickelt hat und jeden materiellen Besitz rigoros abgelehnt hat. Damals trug er nur die teuersten Klamotten von Selbach. Das war hier am Ku’damm so ein superschicker Laden für junge Herrenmode. Hemden mit solchen Kragen und breite Krawatten, direkt aus London, und was auch immer.
Ich kannte eigentlich immer nur in der Wilmersdorfer Strasse Mientus.
Ja, Mientus, das war etwas konservativer, da an der Ecke Mommsenstrasse.
Du musst ja irgendwann mal auf E-Gitarre umgestiegen sein oder warst du in der Schülerband mit Wandergitarre am Start?
Nein, irgendwann haben wir entschieden, wir haben Lust eine Band zu machen. Das war Ende 1966 etwa. Ein Schulfreund wollte seinen Partykeller ausbauen, wie man das früher so hatte. Der wohnte an der Länderallee (Westend) und da haben wir dann im Keller die Wände schwarz gestrichen und dabei immer Rolling Stones gehört (Paint it Black! … und natürlich auch anderes). Und da kamen wir drauf, wir müssen auch unbedingt eine Band gründen. Ich habe mich zuerst geweigert Gitarre zu spielen. Ich habe gesagt, ich habe keine Ahnung davon, das ist elektrische Gitarre und das hat mit Konzertgitarre überhaupt nichts zu tun, ich kann das nicht. Ich wollte lieber Schlagzeug spielen. Da hat Hartmut gesagt, „nein, du musst Gitarre spielen, das geht doch nicht!“. Und so haben wir uns geeinigt, Kompromiss, ich singe. Ich spiele nicht Gitarre. Dann hat also Hartmut den Bass gespielt und wir haben noch einen gefunden für die Gitarre, das war ja nicht so schwer, so ein paar Akkorde, das konnten auch ein paar andere noch. Das war Lutz Behrend, der spielte in der ersten Band Rhythmusgitarre. Nur das Schlagzeug wurde zum Problem, weil der, dessen Keller wir da gestrichen haben, der wollte zwar gerne unser Schlagzeuger werden, hatte aber kein Schlagzeug. Und er hat uns dann Geschichten erzählt, er würde eins zu Weihnachten geschenkt bekommen, und hätte es schon gesehen, oben versteckt im Dachboden. Alles gesponnen, er hat nie eins bekommen. Jedenfalls standen wir dann ohne Schlagzeug da, und die ersten Auftritte haben wir dann auch nur zu dritt gemacht. Mit Bass, Gitarre, und ich habe gesungen und dazu mit so einem Schellenring quasi die Rhythmusgruppe gemacht. Gab es ja früher oft in den Sechzigerjahren bei den Songs, da war dieser Schellenring dabei. Und ich musste immer so ein bisschen rausfinden wie die Musik ging, es war nicht so einfach Noten zu kaufen. Das einzige Musikgeschäft, das ich damals kannte, war das Musikhaus am Zoo in der Nürnberger Straße. Da gab es so eine kleine Abteilung mit ein paar Schlagernoten, das war natürlich nicht das, was wir spielen wollten. Ich habe daher auf Tonband aufgenommen und musste dann raushören, ob der Akkord jetzt passt, wie geht der Bass und vor allen Dingen wie geht der Text. Und ich hatte gerade das erste Jahr Englisch in der Schule und verstand kaum ein Wort. Könnte das so heißen, könnte das vielleicht so heißen. So habe ich mich da reingewurschtelt und wenn ich gar nicht weiterwusste, habe ich einfach alles lautmalerisch nachgemacht. Jahre später habe ich manchmal die richtigen Texte gelesen und habe nur Bauklötze gestaunt, was ich da für Blödsinn verstanden habe, das war schon sehr komisch.
Aber wenn es schön laut war, war es ja auch egal, oder?
Es war egal. Es hat Spaß gemacht und die Leute fanden das toll. Wir haben auf ein paar Schulfeten gespielt. Und erstmal bei Hartmuts Geburtstag bei ihm zuhause, da haben wir angefangen. Er hat öfter bei sich so kleine Feten gemacht damals, er hatte sogar eine kleine Hausbar in der Ecke in seinem Zimmer, musst du dir mal vorstellen.
Ein Lebemann.
Wenn Du die Fotos von damals noch siehst, sein Haarschnitt bei seiner Konfirmation, sein Anzug, lustig…aber, ehrlich gesagt, ich sah auch ziemlich doof aus mit meinem ersten Ansatz von längeren Haaren.
Und wie hieß die Band?
The Bomb Proofs. Die Bombensicheren.
Das hat Hitpotential.
Dann hatten wir auch noch kurzfristig einen Schlagzeuger, Christian Töttcher. Der konnte richtig Schlagzeug spielen, der hatte Schlagzeug gelernt, und der besaß auch eins. Wir haben schon damals versucht, ein wenig zu improvisieren oder ein bisschen über die Vorlage hinauszugehen, wenn es uns zu langweilig war. Wir haben dann Stücke einfach verlängert, Themen ausgebaut. Da gab es so Beispiele, ich weiß nicht ob Du das noch kanntest, von den Rolling Stones, das fand ich damals so toll, dieses Stück Goin‘ home, das war über 11 Minuten lang. Alles was länger als drei Minuten war, das war schon fast eine Symphonie.
Die Stones haben gerade am Anfang ihrer Karriere eigentlich eine ganz andere Musik gespielt als das, was sie später gemacht haben.
Genau, das war auch die Musik, die ich am meisten mochte. Wenn ich heute sage ich war Stones-Fan, dann beziehe ich mich wirklich auf diese frühen Sachen. Mehr der Rhythm and Blues…”
Deutsche Erstausgabe Mai 2023
Copyright © dieser Ausgabe und aller Texte: Bernd Kistenmacher, Edition Mahlstrom, Berlin
Artikelnr. des Verlages: EM 10001
Seitenzahl: 793
Email: service@edition-mahlstrom.de
Satz, Druck und Bindung: Druckhaus Sportflieger, Berlin
Printed in Germany
ISBN 978-3-00-075096-0
Bezugsquelle: https://www.edition-mahlstrom.de/
Über den Autor:
Bernd Kistenmacher, geb. Oktober 1960 in Berlin, lebt und arbeitet seit seiner Geburt in Berlin und bezeichnet sich selbst als „Mauerkind“. Hauptberuflich ist Bernd Kistenmacher Musiker, der im Bereich der elektronisch-symphonischen Musik arbeitet. Bereits 1984 hat er sein erstes Solo-Album „Romantic Times“ auf Kassette veröffentlicht. Weitere Solo-Alben auf Kassette, LP und CD sind gefolgt. Sein Oeuvre umfasst mehr als dreißig Alben. Seinen Backkatalog findet man heute auf der Internet-Plattform „Bandcamp“. Immer wieder hat Bernd Kistenmacher Konzerte im In- und Ausland gegeben; vorzugsweise in Planetarien, weil diese die ideale Infrastruktur für seine Musik bieten.
Bernd Kistenmacher hat 1986 sein erstes Label Timeless Sounds gegründet, dass in den darauffolgenden Jahren in Musique Intemporelle umbenannt wurde und heute unter dem Namen MIRecords firmiert. Früher veröffentlichte das Label zahlreiche Künstler aus dem Bereich der elektronischen Musik, so auch Klaus Schulze, Manuel Göttsching, Michael Hoenig, Agitation Free, Rolf Trostel und viele andere. Heute veröffentlicht Bernd Kistenmacher auf MIRecords ausschließlich eigene Produktionen.
Bernd Kistenmacher war der erste unabhängige Produzent, der Mitte der Neunziger Jahre und vor dem Siegeszug des Internet die Multimedia-Produktion „The M.I. Rainbow Collection“ produziert und veröffentlicht hat. Schon damals interessierte ihn die Verbindung aus unveröffentlichter Musik und Bereitstellung von Hintergrundinformationen über die jeweiligen Künstler mittels integrierter Datentracks. Damals ein absolutes Novum.
Heutzutage ist Bernd Kistenmacher als freier Autor für diverse Musikmagazine und –Plattformen tätig. 2020 hat er seinen eigenen YouTube Kanal „Freak Out Your Synth“ aufgebaut, auf dem er ausgewählte Synthesizer in Bild- und Ton vorstellt.
An dieser Stelle werden exklusiv Auszüge aus Bernd Kistenmachers Buch “FERNE ZIELE – Geschichten über die Berliner Schule für elektronische Musik” veröffentlicht. Diese Aktion soll dabei helfen, dieses beinahe 800 Seiten starke Werk besser kennenzulernen und darauf neugierig zu machen. Ihr dürft euch also auf eine Menge spannender und interessanter Geschichten rund um die Berliner Schule für elektronische Musik freuen.
Weiter geht es mit einem Auszug aus der Biografie von Lutz “Lüül” Graf-Ulbrich.
“Von Eichkamp in die Welt – Der Musiker Lutz „Lüül“ Ulbrich
Lutz, mich würde deine Zeit in Eichkamp interessieren. Bist du da auch zur Schule gegangen?
Ja, ja, in die Waldschule. Also die Waldschule ist – wie der Name schon sagt – da im Wald in Eichkamp quasi um die Ecke.
Ich kenne Eichkamp nur indirekt, aber meine Familie hat da mal ein Haus gehabt.
Echt?
Im Maikäfer Pfad
Ehrlich? Maikäferpfad, da ist ja auch das Gemeindehaus und das ist jetzt ganz schön dort. Das hat der Siedlerverein gekauft und da spiele ich jetzt immer einmal im Jahr. In meiner Heimat, wo alles anfing. War jetzt gerade wieder vor drei Wochen oder so.
Ja, habe ich gelesen. Und habe mich geärgert. Ich wollte unbedingt hinkommen, war aber im Urlaub.
Ja, das ist aber nochmal so jedes Jahr, hat sich so eingebürgert seit drei, vier, fünf Jahren. Und das ist echt toll. Es wird immer voller.
Wie viele Leute kommen da?
Da waren jetzt 120 Leute, also viel mehr passten auch gar nicht rein. Und ich habe da auch Lesungen gemacht, als meine Mutter noch lebte. Das war total süß. Da habe ich natürlich mehr so Storys auch aus Eichkamp gelesen, also vom Anfang so. Und ja, da bin ich groß geworden und habe dann mit Christopher Franke, den ich seit ich fünf bin, kenne, angefangen Musik zu machen. Wir kannten uns schon aus dem Kindergarten. Der wohnte zwei Straßen weiter.
Ihr seid in dieselbe Klasse gegangen?
Nein, der war eine tiefer. Der ist ein Jahr jünger, aber wir waren beide auf der gleichen Schule. Und dann hatte ich durch die Beatles quasi Lust gekriegt, Musik zu machen als Zehnjähriger. Und das hat dann irgendwie Christopher mitgekriegt und kam vorbei. Ich hatte einen Partykeller, wie man das damals so hatte. Und dann haben wir da zusammen, es war so ’64 oder so was, ’63, ’64, angefangen. Wir beide erstmal. Er hatte aus dem Telefon die Mikrofone rausgenommen. Er war ja schon immer technisch versiert. Und das waren unsere ersten Mikrofone. Und er trommelte halt schon ganz gut, obwohl er mit Geige und Trompete aufgewachsen ist. Seine Mutter war ja Geigenlehrerin. Er kam also aus einem musikalischen Haus. Und dann haben wir da die erste Band gegründet.
Also er war Schlagzeuger?
Er war dann Schlagzeuger, hatte aber noch gar kein Schlagzeug. Wir hatten immer diese Wäschetrommeln da, also diese Persil-Trommeln. Genau, da klopfte man drauf rum. Und dann gab es noch so ein paar Läden, Gebrauchtwarenläden, da haben wir uns ein Becken gekauft für fünf Mark. Und ich weiß noch, ein Schlagzeug für 400 Mark. Also das war dann schon ganz schön teuer.
Ist ja schon viel Geld gewesen.
Ja, ja, genau. Gitarren waren billiger. Aber Schlagzeug war immer schon mal so ein Haufen Kohle. Ich hatte einen Gitarrenverstärker, der kostete 150 Mark oder so. Aber Schlagzeug war dann schon mal…
…für damalige Zeit viel Geld.
Ja, irre. Und er hat sich dann aber eines gekauft, denn er war sehr talentiert. Und so fing das an. Dann haben wir eine Schulband und unsere ersten Auftritte gehabt in der Schule oder auf irgendwelchen Schulpartys oder bei Freunden und so. Und dann gab es ein paar Umbesetzungen.
Ihr habt aber Beatmusik gespielt.
Genau. Wir haben nachgespielt. Beatles war immer ein bisschen schwierig so mit den ganzen Gesängen und Akkorden, die wir alle nicht so kannten. Dann haben wir eher Stones, Kings, Yardbirds gespielt. In meinem Buch ist ja auch eine Setliste von unseren Anfängen drin. Und dann gab es eine weitere Band, erst hießen wir The Tigers, dann The Sentries und dann wechselten die Leute. Und dann gab es noch mal, das war dann ’67, einen entscheidenden Start beim Zusammenschluss von Christopher und mir mit einer anderen Band aus Westend, den Ugly Things. Das waren Michael Günther, also Fame, der Bassist und Ludwig Kramer, Gitarrist. Wegen der Pretty Things haben sie sich Ugly Things genannt. Und die hatten aber auch irgendwie Probleme. Und so haben wir uns auf dem Oktoberfest, weiß ich noch, das war da immer hinter der Deutschlandhalle, da haben wir uns getroffen. Und haben ’67 The Agitation gegründet. Wir haben dann zwar noch andere Stücke gecovert, aber dann haben wir schon versucht, eigene Stücke zu machen.
War das vor dem Hintergrund, dass man rebellisch sein wollte?
Ja, der Name Agitation bedeutet ja Unruhe, Erregung. Agitation ja, also man wollte schon aufwühlen. Man wollte irgendwie anders sein. Und wir wollten auch ziemlich schnell eben nicht mehr kopieren. Wie wir alle so angefangen haben, also englische und amerikanische Bands zu kopieren, war dann irgendwann nicht mehr unser Ding. Wir wollten einfach selber eigene Stücke machen. Ein entscheidender Einfluss war, dass unser Gitarrist Ludwig (Lutz Kramer) in den Ferien im Sommer nach England ging. Weil, das war natürlich auch immer so das Mekka, Carnaby Street und was da alles so war, Flower-Power, diese ganze Bewegung. Und viele, die dann da waren, kamen total begeistert zurück. So auch Ludwig, der hatte nämlich ein Pink Floyd Konzert gesehen. Und das war die frühe Phase vor The Piper at the Gates of Dawn. Das muss dann so ’68 gewesen sein, da meinte er: „Ey, wir müssen mal so ein bisschen spaciger an die Sache rangehen.“ Und dann haben wir also angefangen auch WahWah Pedale einzusetzen, da gab es die ersten Echogeräte, damit man einfach ein bisschen experimenteller wurde. Und dann gab es auch parallel dazu ja in Berlin die Band Tangerine Dream, die ich mir mal mit Christopher angesehen habe.
Also ihr seid sozusagen von euch aus auf einen neuen „Sound“ gekommen und ihr wart jetzt nicht, sagen wir mal, Schüler vom Beat Studio und Thomas Kessler hat euch neue Sounds beigebracht?
Nein, also die Anlagen, also den Wunsch, sagen wir mal, den Wunsch jetzt neue Klänge oder einfach anders zu sein oder neu zu klingen, das war schon bei uns drin. Unsere Musik war auch ein bisschen punkig, weil wir waren ja jetzt auch keine ausgebildeten Musiker, außer Christopher, der übrigens auch schon damals bei Schlagzeugwettbewerben oder irgendwelchen Events spielte. Er hat einfach nur Schlagzeugsoli gespielt, der war wirklich versiert und wir jetzt keine technisch so dollen Musiker. Es war ja eher so die Attitüde, wir waren irre jung und wir wollten einfach so punkmäßig sein, so, Ey, komm und rein und los. Und da gab es dann auch das legendäre Konzert im Quasimodo, wo wir einen Probeauftritt hatten, ob wir da hätten länger spielen könnten. Da war John L., der tauchte da auf, ein total Durchgeknallter, Heroinsüchtiger. Und der ließ sich da in der Unterhose auspeitschen von Karlheinz Pawla, so einem Anarcho aus der Kommunenszene. Also es war echt wild dann teilweise. Und alle waren natürlich auch auf Drogen. Wir haben auch gekifft und LSD geschmissen und das brachte uns natürlich auch in neue Welten und neue Erfahrungen und Aufbruch und Veränderung und raus aus den alten Ketten und so. Das war so ein bisschen die Zeit. Und natürlich spiegelte sich das auch in unserer Musik wider.
Das war ungefähr wann?
Das war so ’68, also ’67 gegründet und dann ’68, ’69. Wir probten aber immer noch bei der Mutter von Christopher im Keller. Bis halt Christopher mal die Idee hatte, der Keller sei zu flach. Da hatte der eine Steinhacke genommen und versucht, den Boden tieferzulegen. Und die Mutter hörte irgendwelche Geräusche und rannte also runter und „Was machst du denn da?“ und so. Und da war klar, das geht jetzt nicht mehr. Parallel dazu hatten meine Eltern ein Haus gekauft. Das war auch in Eichkamp und es stand noch leer. Da sind wir dann vor dem Umzug erstmal untergekommen. Genau, in der Eichkampstraße war das. Und dann hatten wir also dicke Verstärker inzwischen. PAs und sowas gab es ja alles noch nicht. Es gab zwar Bands mit Gesangsanlage, aber da wir keinen Gesang hatten, brauchten wir sowas nicht. Wir hatten einfach so kleinere Verstärker und nun haben wir aber dann aufgerüstet, größere, lautere Verstärker, AC 100 und Foundation Bass, also Vox war damals so die Firma, die man benutzte, später Marshall. Damit waren wir ja irre laut. Und das ging dann eben auch nicht mehr. Und dann hat uns Ludwig, der inzwischen bei der Kommune I wohnte, uns bei denen einen Übungsraum besorgt.
Lutz war in der Kommune 1?
Das war er. Die Kommune 1, die war damals in Moabit, Stephanstraße. Im ersten Stock war nur ein Raum, so ein Loft-artiges Ding mit einer Küche, wo die da alle hausten und auf Matratzenlagern schliefen. Es gab aber im Nebengebäude noch ein paar Räume, wo auch noch welche wohnten. Und da wohnte auch Ludwig. Und dann hatte Ludwig gefragt, ob es da Räume gäbe, wo wir proben könnten. Und dann kam tatsächlich Rainer Langhans mit seinem VW Bus vorgefahren in Eichkamp und hat die Sachen eingeladen.
Wie haben deine Eltern reagiert? Waren die geschockt?
Nein, also meine Eltern waren ganz naiv, was Drogen betraf und so. Also das war ja damals alles noch zahm. Ich kann mich erinnern, wir hatten so eine Musiktruhe von meinen Eltern, und einmal haben wir da Pink Floyd gehört und lagen alle bekifft herum, weißt du, Augen zu. Und meine Mutter kam rein und sagte „Ach die Jugend hier.“ Hört da Musik und lauscht andächtig. So war das eher. Mit Haschisch und so, das wussten die noch gar nicht so richtig. Und das war ja auch alles noch harmlos. Nein, meine Eltern, die haben mich immer unterstützt, da bin ich ihnen auch wirklich zu Dank verpflichtet. Die haben mich eigentlich in jeder Phase meines Lebens unterstützt. Klar, hätten die sich auch gewünscht, dass ich eher so sagen wir mal einen bürgerlichen Beruf erlernt hätte, der nicht so unsicher ist wie ein freiberuflicher. Aber das haben die trotzdem immer unterstützt. Denn die wollten immer, dass ich das mache, was mir Spaß macht. Sie waren dann aber auch froh, als wir aus dem Haus raus waren, weil es war ja doch zu laut. War ja auch nur eine Notlösung. Ja, und dann in der Kommune 1 war es super zu proben. Ich kann mich erinnern, da waren auch mal Amon Düül zu Besuch.
Wie ging’s dann weiter?
Parallel dazu hat die Mutter von Christopher, die sehr engagiert war, auch was aus uns einmal werden soll, Kontakt geknüpft zur Musikschule Wilmersdorf in der Pfalzburger Straße. Da kannte sie nämlich den Direktor, Dr. Konrad Latte. Und der hatte irgendwie Gelder zur Verfügung und wollte, so wie ich mich erinnere, einen Flügel kaufen, der auch nicht so ganz billig war. Sie hat ihn dann davon überzeugt, doch lieber einen Übungsraum zur Verfügung zu stellen, weil die hatten da Kellerräume, die man als Studio für Musiker, nämlich uns, ausbauen konnte. Da hießen wir dann schon Agitation Free. Und dann hat Konrad Latte das auch genau getan. Das war eigentlich sensationell, denn das quasi Senatsgelder für sowas ausgegeben wurden, war damals nicht üblich. Und dann, wie genau müsste Thomas Kessler besser wissen, kamen wir da rein. Die meinten dann, Übungsräume schön und gut, aber wir brauchen jemand, der das beaufsichtigt beziehungsweise die Musiker dann auch an die Hand nimmt. Und dann haben sie den Avantgardemusiker und Komponisten Thomas Kessler dafür gewonnen. Das sind zwei Kellerräume in der Pfalzburger Straße gewesen, die wir dann mit Eier Pappkartons ausgekleidet haben, wie man das damals so machte, damit die Akustik ein wenig besser wird. Und dann gab es drei AKAI-Bandmaschinen. Das war damals wahnsinnig toll. Tonbänder und ein paar Mikrofone. Viel mehr Equipment war da gar nicht. Es gab den Regieraum, wo die Bandmaschinen standen, und dann den Proberaum. Und dann war das immer so, dass man jeden Tag von 15.30 Uhr bis 20:00 Uhr proben konnte. Das sprach sich ziemlich schnell rum. Wir waren quasi die Gründer des Beat Studio, wir waren die ersten mit Agitation Free. Dann kamen aber ziemlich schnell Ash Ra Tempel, die sich dann auch gerade gegründet hatten mit Klaus Schulze und Hartmut Enke und Tangerine Dream auch. Curly Curve war noch eine Band, die da drin war, aber auch noch andere Bands. Ich kann dir gleich mal einen Clip von der SFB Abendschau zeigen. Ich weiß noch, irgendwann war die Abendschau mal da und die haben im Beat Studio gedreht. Den Clip zeige ich auch bei meinen Lesungen, das ist der Knaller (Anmerkung: der Abendschau Clip wird auch im Gespräch mit Lutz „Ludwig“ Kramer erwähnt). Und dann wurde das Beat Studio eine Institution, so dass eben die Bands da vorbeikamen. Wie das aufgeteilt war, ob jede Band nun einen ganzen Nachmittag hatte oder ob man nur zwei, drei Stunden hatte, dass weiß ich nicht mehr. Jedenfalls hat uns Thomas Kessler dann unterrichtet.
Das heißt, er hatte technisches Knowhow und hat euch an die Technik ran geführt sozusagen?
Also Technik gar nicht mal so sehr.
Mutig sein? Herumzuexperimentieren? Neue Wege finden?
Also er kam ja, wie gesagt, aus der Avantgarde und war sehr der modernen Musik und Experimenten aufgeschlossen. Und es war ja eh die Zeit, wie gesagt, wir haben uns ja auch in diese Richtung entwickelt. Das passte super zusammen. Und das war ein großer Glücksfall, dass wir jetzt so einen da hatten, der uns einfach forderte und auch inspirierte. Und zum Beispiel als Erster, kann ich mich erinnern, von einem Synthesizer sprach. Wo wir gar nicht wussten: Synthesizer, was ist denn das jetzt? Und wir wussten gar nicht, wie man das schreibt und hatten sowas auch noch gar nicht gehört. Und dann meinte er, so ein Instrument, das wäre was für euch. Und dann bin ich mit Michael Hoenig, der dann schon in der Band war, nach England gefahren. Christopher war da schon weg. Und da haben wir uns diesen berühmten EMS Synthi AKS, diese Aktentasche gekauft. Der hatte noch so ein komisches Plastikkeyboard und kleine Stecker für das Steckfeld und so.
Das war aber schon Anfang ’70?
Das war 1971…”
Viel mehr spannende Geschichten gibt es im Buch FERNE ZIELE von Bernd Kistenmacher zu lesen. FERNE ZIELE ist im Verlag EDITION MAHLSTROM, Berlin erschienen.
Deutsche Erstausgabe Mai 2023
Copyright © dieser Ausgabe und aller Texte: Bernd Kistenmacher, Edition Mahlstrom, Berlin
Artikelnr. des Verlages: EM 10001
Seitenzahl: 793
Email: service@edition-mahlstrom.de
Satz, Druck und Bindung: Druckhaus Sportflieger, Berlin
Printed in Germany
ISBN 978-3-00-075096-0
Bezugsquelle: https://www.edition-mahlstrom.de/
Über den Autor:
Bernd Kistenmacher, geb. Oktober 1960 in Berlin, lebt und arbeitet seit seiner Geburt in Berlin und bezeichnet sich selbst als „Mauerkind“. Hauptberuflich ist Bernd Kistenmacher Musiker, der im Bereich der elektronisch-symphonischen Musik arbeitet. Bereits 1984 hat er sein erstes Solo-Album „Romantic Times“ auf Kassette veröffentlicht. Weitere Solo-Alben auf Kassette, LP und CD sind gefolgt. Sein Oeuvre umfasst mehr als dreißig Alben. Seinen Backkatalog findet man heute auf der Internet-Plattform „Bandcamp“. Immer wieder hat Bernd Kistenmacher Konzerte im In- und Ausland gegeben; vorzugsweise in Planetarien, weil diese die ideale Infrastruktur für seine Musik bieten.
Bernd Kistenmacher hat 1986 sein erstes Label Timeless Sounds gegründet, dass in den darauffolgenden Jahren in Musique Intemporelle umbenannt wurde und heute unter dem Namen MIRecords firmiert. Früher veröffentlichte das Label zahlreiche Künstler aus dem Bereich der elektronischen Musik, so auch Klaus Schulze, Manuel Göttsching, Michael Hoenig, Agitation Free, Rolf Trostel und viele andere. Heute veröffentlicht Bernd Kistenmacher auf MIRecords ausschließlich eigene Produktionen.
Bernd Kistenmacher war der erste unabhängige Produzent, der Mitte der Neunziger Jahre und vor dem Siegeszug des Internet die Multimedia-Produktion „The M.I. Rainbow Collection“ produziert und veröffentlicht hat. Schon damals interessierte ihn die Verbindung aus unveröffentlichter Musik und Bereitstellung von Hintergrundinformationen über die jeweiligen Künstler mittels integrierter Datentracks. Damals ein absolutes Novum.
Heutzutage ist Bernd Kistenmacher als freier Autor für diverse Musikmagazine und –Plattformen tätig. 2020 hat er seinen eigenen YouTube Kanal „Freak Out Your Synth“ aufgebaut, auf dem er ausgewählte Synthesizer in Bild- und Ton vorstellt.
In den kommenden Wochen werden wir an dieser Stelle, aber auch in ausgewählten sozialen Netzwerken Auszüge aus Bernd Kistenmacher’s Buch “FERNE ZIELE – Geschichten über die Berliner Schule für elektronische Musik” veröffentlichen. Diese Aktion soll helfen, dieses 800 Seiten starke Werke ein wenig besser kennenzulernen und darauf neugierig zu machen. Ihr dürft euch also auf eine Menge spannender und interessanter Geschichten rund um die Berliner Schule für elektronische Musik freuen.
Los geht es mit einem Auszug aus der Biografie von Bernd Kistenmacher:
“Die Insel der Wolkenschieber
Irgendwie hatte ich schon immer einen Draht zu “schräger“ Musik. Meine Cousine war damals ein absoluter Hippie. Sie hatte lange Haare und trug das typische Outfit für diese Zeit. Fischerkugeln hingen in einem Netz von ihrer Zimmerdecke. Eine in eine Chianti-Flasche gesteckte Tropfkerze verbreitete ihr schummriges Licht und süßlich riechende Räucherstäbchen qualmten auf dem Tisch und vernebelten Luft und Sinne. Man ahnt es. Damals war ich noch sehr unschuldig und natürlich wusste ich nicht genau, ob es wirklich nur Räucherstäbchen waren, die da qualmten. Sie rochen jedenfalls sehr gut. Irgendwann an diesem für mich besonderen Nachmittag im Herbst 1970 spielte sie mir ihre Musik vor. Ich erinnere mich noch wie heute an Echoes von Pink Floyd und Ruckzuck von Kraftwerk. So etwas hatte ich noch nie zuvor gehört. Ich war von dieser Musik derart eingenommen, dass ich danach monatelang mein Taschengeld zusammensparte, um mir das erste Album von Kraftwerk endlich kaufen zu können. Das war im Frühjahr 1971.
Nun muss man sich vorstellen, dass in den Fünfziger- und Sechzigerjahren der Gang in einen Schallplattenladen oder besser in ein Rundfunkgeschäft eher etwas Einschüchterndes hatte. Da waren gut gekleidete Damen und Herren, vielleicht auch schon mal ein „moderner“ Typ mit Sakko, Vollbart und halblangen Haaren. Jemand für das jüngere Publikum sozusagen. In so einen Laden hineinzugehen war so, als ob man heute mit billigen Klamotten eine Nobelboutique betritt. Man wurde gemustert, abgeschätzt und bewertet. Vielleicht wurde man höflich angegrinst. Eine leichte Verbeugung inbegriffen. In so einen Laden ging man nicht ohne Begleitung Erwachsener und natürlich musste man nach allem, was einen interessierte, fragen. Auch nach einer Schallplatte. Schon gar, wenn man sie sich anhören wollte. Und auch das Anhören einer Platte war ein besonderes Erlebnis, zumal es damals durchaus noch „Plattenbars“ gab, also Abspielstationen zum Anhören der Musik. Man äußerte seinen Musikwunsch und hinter dem Tresen wurde die Schallplatte dann aufgelegt, die man sich über einen „Stielhörer“, der einem Telefonhörer nicht unähnlich war, anhörte. Genau so habe ich es in den Sechzigerjahren als kleiner Knirps erlebt. Kopfhörer und anderes, neumodisches Zeug, waren nur etwas für Spezialisten und im beginnenden Space-Age gerade erst im Kommen. Also, die Blicke, die man erntete, wenn man in so einem Geschäft nach Kraftwerk oder Pink Floyd fragte, kann sich jeder selbst vorstellen. Mit „Hasch-Musik“ wollte man nichts zu tun haben. Und mal ehrlich, wer kannte denn diese Musik wirklich? Kaum einer. Woher auch? Aber zum Glück schlug damals die Stunde der „echten“ Plattenläden. Geschäfte, die eigens angefragte Titel besorgten und in die Regale stellten, denn wenn schon jemand nach einer bestimmten Platte fragte, musste es der Titel wohl wert sein, ins Sortiment geholt zu werden. Es könnten sich ja auch andere Menschen dafür interessieren…
Wir befinden uns an der Schwelle zu den Siebzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Einer Zeit, in der sich die Sicht auf die Welt radikal änderte. Altbekannte Strukturen und überkommene Lebenskonzepte lösten sich in Luft auf, um Platz für neue Ideen zu machen.
Studentenrevolten waren gerade mal so „bewältigt“. Antiautoritäre Erziehung war „in“. Diese Veränderung betraf nicht nur politische Ansichten, sondern auch die Lebensweisen und das Konsumverhalten der Menschen. Selbstbedienungsläden und Supermärkte waren im Kommen. In den USA gab es so etwas schon lange. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es aber auch hier an der Zeit, sich den verschiedensten kapitalistischen „Segnungen“ aus Amerika zu stellen. Die Lebensweisen der Menschen in West-Berlin waren fortan „westlich“ geprägt. Wir Kinder wurden sowieso unmittelbar von der amerikanischen Popkultur beeinflusst. Ob es sich nun um Coca-Cola, Kino oder Comics handelte.
Dieser Kultur- und Strukturwandel hatte Konsequenzen. Das große Sterben des Einzelhandels begann langsam. Und diese Entwicklung hatte Auswirkungen auf die meisten Branchen. Auch das Ende der klassischen Rundfunkgeschäfte wurde eingeläutet. Nur wenige überlebten. Sie machten Platz für auf spezielle musikalische Bedürfnisse ausgerichtete Läden. Fachgeschäfte mit einem großen Sortiment. Die Plattenläden, wie wir sie lange Zeit kannten, wurden damals geboren und um es kurz zu machen, kaufte ich mir mein erstes Album von Kraftwerk in der Joachimsthaler Straße bei Grießbach, einem für damalige Verhältnisse riesigen Plattenladen in der Nähe des Kurfürstendamms. Das geschah natürlich in Begleitung meiner Mutter.
Doch sogleich stand ich vor der nächsten Hürde. Mit elf Jahren hatte ich noch keinen eigenen Plattenspieler oder ähnliches. Also musste ich meine Eltern um Erlaubnis fragen, ob ich ihre Musiktruhe benutzen dürfte. Das ‚Ja‘ ist ihnen sicherlich nicht leichtgefallen, aber so war das halt im Jahr 1971. Der in den Haushalten Einzug haltende Luxus kostete viel hart erarbeitetes Geld und die Dinge mussten pfleglich behandelt werden. Wenn man etwas wollte, musste man danach fragen. Nicht das schlechteste Konzept übrigens…
Ruckzuck von Kraftwerk wurde für eine recht lange Zeit eine Art persönliche Hymne. Ich weiß nicht, wieviel Hundertmal ich mir das Stück angehört habe. Auf jeden Fall nervte es meine Eltern ungemein. Natürlich war es nicht ihre Musik. Ihr musikalischer Geschmack reichte von Peter Alexander bis zu Klavierkonzerten von Chopin. Immerhin. Nicht viel später gesellten sich die Schallplatten von James Last zu ihrer Sammlung. Das war mal was Modernes. Und wer modern sein wollte, der spielte seine Musik auch nicht mehr in einer Musiktruhe ab, sondern wendete sich der neuesten Technik zu. Und so kauften sich meine Eltern Anfang der Siebzigerjahre eine sogenannte Stereoanlage. Quasi eine Desktop-Version einer Musiktruhe. Das war der letzte Schrei. Stereoanlagen gab es noch vor den etwas Ambitionierteren HiFi-Anlagen und sie waren Hybrid-Geräte, die meist aus der Kombination Plattenspieler, Radio und Kassettenrecorder plus zwei Lautsprechern bestanden. Alles war in einem futuristischen Gehäuse verbaut. Und es gab Geräte für jede Preisklasse. Jedenfalls gereichte mir die Entscheidung meiner Eltern für so ein Ding zum Vorteil, denn so erbte ich ihre alte Musiktruhe, die fortan in meinem eigenen Zimmer stand. Übrigens: Der Plattenspieler dieser Musiktruhe hatte ein interessantes Feature zu bieten.
Neben den Abspielgeschwindigkeiten 45 UpM für Singles und 33 1/3 UpM für Langspielplatten konnte man auch 78 UpM zum Abspielen alter Schellackplatten und 16 2/3 UpM einstellen. Und sie hatte noch etwas drauf, das spätere Geräte nicht mehr haben sollten. Das Radio hatte neben den Frequenzen UKW für Ultrakurzwelle und MW für Mittelwelle auch Empfangsteile für LW, also Langwelle und KW, sprich Kurzwelle. Damit konnte ich in der Nacht akustische Reisen um die Welt machen oder den Polizeifunk abhören; die Frequenzbänder gingen bei meiner Truhe ein kleines Stück weiter als erlaubt. Das war genau das Richtige für einen Soundenthusiasten wie mich. Schräge Musik noch schräger machen? Fremde Klänge hören? Genau mein Ding. Später gesellten sich noch ein Kassettenrekorder von Universum und ein wirklich tolles Tonbandgerät von Grundig hinzu. Was den Musikkonsum anging, war ich also als Elfjähriger wirklich nicht schlecht ausgestattet und so kamen über die Jahre weitere Platten mit „schräger“ Musik zu meiner Sammlung hinzu. Das waren zum Beispiel Ummagumma, Meddle und Dark Side Of The Moon von Pink Floyd, das Album 666 von Aphrodite’s Child oder Earth, das erste offizielle Solo-Album von Vangelis. All diese wunderbaren Platten zogen mich immer tiefer in dieses pure Glück verheißenden Klangkosmos hinein. Ich fühlte mich so, als ob ich der Hüter eines besonderen Schatzes gewesen bin. Und ein wenig war das auch so, denn niemand in meiner Nähe hörte anfangs die gleiche Musik wie ich. Das dachte ich zumindest. Dass aber nur wenige Jahre zuvor ganz in der Nähe meines Geburtsortes in Berlin-Wilmersdorf wichtige Kapitel der Geschichte der Rockmusik geschrieben worden waren, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Entdeckte ich Ende der Sechzigerjahre so gerade mal die Musik der Beach Boys (meine Mutter ließ in ihrem Kofferradio gerne den AFN laufen), hatten sich in West-Berlin bereits Bands wie Agitation Free, Tangerine Dream oder Ash Ra Tempel, die Band des Berliner Gitarristen Manuel Göttsching formiert. 1968 war die Geburtsstunde der Berliner Schule. Da war ich acht Jahre alt. In dem berühmten Electronic Beat Studio (das von allen damals immer nur Beat Studio genannt wurde) in der Pfalzburger Straße 32 in Wilmersdorf lernten die Musiker unter der Leitung des Schweizer Musikprofessors Thomas Kessler neue Techniken zur Musikproduktion und zur Komposition kennen. Die Musik, die diese Bands entwickelten, sollte später, anfangs respektlos gemeint und dann zu einem festen Begriff werdend, „Krautrock“ genannt werden, dann aber auch progressive und psychedelische Musik. Gerade der Begriff „Progressiv“ war vor dem damaligen politischen Hintergrund durchaus gewollt und Programm. Parallel dazu waren aber auch Gruppen wie Kraftwerk, Can, Amon Düül, Embryo, Achim Reichel und sehr viele andere Bands ebenfalls Vorreiter dieser neuen Musik aus Deutschland. Und so gab es auch eine Düsseldorfer Schule und eigentlich auch eine Münchener Schule. Alles musikalische Keimzellen, die bis heute weltweite Anerkennung genießen und weiterhin viele internationale Künstler beeinflussen und inspirieren. Die Berliner Schule, genauer die Berliner Schule für elektronische Musik, fristete daneben immer eher ein Schattendasein in diesem großen Krautrock-Universum. Obwohl einige der oben genannten Berliner Protagonisten in den Siebziger- und Achtzigerjahren vor allen Dingen im europäischen Ausland, aber auch international sehr erfolgreich gewesen sind, gab es im Inland kaum eine musikalische und künstlerische Anerkennung für ihr tun. Selbst als am 20. Januar 2015 Edgar Froese verstarb, erscheinen die ersten Nachrufe auf ihn zuerst in England und in den USA. Erst dann erinnerte man sich seiner eher halbherzig auch hierzulande. Ja, die elektronische und psychedelische Rockmusik aus Berlin hatte es immer etwas schwerer. Dennoch, und davon bin ich absolut überzeugt, hätte sie an keinem anderen Ort in der Welt als in West-Berlin so entstehen können wie sie sich letztlich entwickelt hat. Die besonderen Lebensumstände in dieser Stadt hatten einen Einfluss auf alles. Auch auf die Musik.”
und weiter…
“Elternhaus
„Nimm die Finger aus dem Radio!“ Ansonsten eher stiller Natur, vernahm ich die deutlichen Worte meiner Mutter mit dem Unterton einer gewissen Sorge. Wenn sie so etwas sagte, meinte sie es wohl ernst. Ich war sechs Jahre alt und hatte sie eigentlich noch nie so erlebt. Das Radio, aus dem ich meine Finger nehmen sollte, war ein kleines Kofferradio der Firma Grundig, das in unserer Küche stand. Wir wohnten damals in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der Blissestraße 27 in Wilmersdorf im fünften Stock eines Mehrfamilienhauses, also recht modern für damalige Verhältnisse. Über uns war nur noch der Himmel. Ein Umstand, der noch eine größere Bedeutung für mich erlangen sollte. Wir schreiben übrigens das Jahr 1966. Nun gab es zwei gute Gründe, weshalb ich mich damals gerne in der Küche aufhielt. Zum einen war meine Mutter durch und durch Hausfrau. Die Küche war ihr „Arbeitszimmer“, wie eigentlich der Rest der Wohnung auch. Hier aber kochte sie und es bestand immer die Chance, dass man etwas zum Naschen bekam. Einen leeren Topf, in dem sie gerade frischen Pudding gekocht hatte zum Beispiel. Da fiel also immer irgendetwas Leckeres ab. Der zweite Grund war das besagte Kofferradio. Es hatte eine beleuchtete Skala, eine Antenne, die man ausziehen und ausrichten konnte und auf der Rückseite einen Deckel, der aufklappbar war. Der warme Klang dieses Radios und der Deckel zogen mich immer magisch an. Ich wollte instinktiv wissen, was „dahinter“ steckte. Woher der Klang kommt und was da so alles passiert. Ohne natürlich wirklich etwas davon zu verstehen. Mein Vater machte das schließlich auch so. Er hatte Kraftfahrzeugmechaniker auf einem Busbahnhof der BVG, der Berliner Verkehrsbetriebe, gelernt und wusste, wie man Dinge repariert. Ob es der kaputte Fernseher oder der verstopfte Vergaser seines VW-Käfers gewesen ist. Er konnte einfach alles reparieren und hat unserer kleinen Familie so sehr viel Geld gespart. Also, wenn er das konnte, dann konnte ich das doch auch, oder? Mein erster Versuch in dieser Richtung, nämlich einen batteriebetriebenen Leuchtstein von LEGO an eine normale Steckdose anzuschließen, war kläglich gescheitert. Immerhin hatte ich überlebt. Der LEGO-Stein nicht. Mein Vater wurde damals sehr wütend und der Sinn der Konsequenzen, die ich dann zu tragen hatte – nämlich eine Woche Stubenarrest und Taschengeldentzug – hat sich mir bis heute nicht erschlossen. Aber so war das damals. Jedenfalls hat das meine Experimentierlust in keiner Weise gebremst und so „reparierte“ ich einfach mal unser kleines Kofferradio mit bloßen Fingern. Eine Gabel war, glaube ich, auch noch mit im Spiel. Nun, diese Aktion ging gut aus. Auch, weil mein Vater nie etwas davon erfuhr. Wo nun all diese tolle Musik herkam, habe ich aber durch den rückwärtigen Blick ins Radio auch nicht erfahren. Was ich aber erfahren habe war, dass der Radiosender, den meine Mutter hörte, AFN Berlin hieß. AFN stand für American Forces Network. „Das ist ein Soldatensender“, hörte ich sie sagen. Was das wiederum bedeutete, erfuhr ich erst sehr viel später. Jedenfalls kündigten die Leute im Radio in feinstem American English die neuesten Hits aus den USA an. Die Sprache verstand ich natürlich nicht, aber die tolle, frische und moderne Musik reichte mir vollkommen aus. Und mal ehrlich, wenn so eine tolle Musik im Radio lief, musste das Land, aus dem sie kam, ja auch toll sein, oder? Einen sechsjährigen Jungen auf diese Weise pro-amerikanisch einzustellen, war jedenfalls nicht so schwer. Politik war sowieso etwas für Erwachsene.
Eine Musik hatte es mir damals besonders angetan. Das war der Song Good Vibrations von den Beach Boys. Da war vieles dabei, was etwas in mir für immer auslöste. Mehrstimmiger Gesang, eine eigenartig klingende Orgel, alles mit Hall unterlegt, ein flotter Beat und dieses seltsame Ufo-Geräusch am Ende des Songs. Erst später sollte ich herausfinden, dass dieser Klang mit einem sogenannten Tannerin (nach Paul Tanner) oder Elektrotheremin, einem frühen elektronischen Musikinstrument, gemacht worden ist. So etwas gefiel mir von frühen Kindesbeinen an und sollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen…”
Das Buch FERNE ZIELE ist im Verlag EDITION MAHLSTROM, Berlin erschienen.
Deutsche Erstausgabe Mai 2023
Copyright © dieser Ausgabe: Edition Mahlstrom
Artikelnr. des Verlages: EM 10001
Seitenzahl: 793
Email: service@edition-mahlstrom.de
Satz, Druck und Bindung: Druckhaus Sportflieger, Berlin
Printed in Germany
ISBN 978-3-00-075096-0
Bezugsquelle: https://www.edition-mahlstrom.de/
Über den Autor:
Bernd Kistenmacher, geb. Oktober 1960 in Berlin, lebt und arbeitet seit seiner Geburt in Berlin und bezeichnet sich selbst als „Mauerkind“. Hauptberuflich ist Bernd Kistenmacher Musiker, der im Bereich der elektronisch-symphonischen Musik arbeitet. Bereits 1984 hat er sein erstes Solo-Album „Romantic Times“ auf Kassette veröffentlicht. Weitere Solo-Alben auf Kassette, LP und CD sind gefolgt. Sein Oeuvre umfasst mehr als dreißig Alben. Seinen Backkatalog findet man heute auf der Internet-Plattform „Bandcamp“. Immer wieder hat Bernd Kistenmacher Konzerte im In- und Ausland gegeben; vorzugsweise in Planetarien, weil diese die ideale Infrastruktur für seine Musik bieten.
Bernd Kistenmacher hat 1986 sein erstes Label Timeless Sounds gegründet, dass in den darauffolgenden Jahren in Musique Intemporelle umbenannt wurde und heute unter dem Namen MIRecords firmiert. Früher veröffentlichte das Label zahlreiche Künstler aus dem Bereich der elektronischen Musik, so auch Klaus Schulze, Manuel Göttsching, Michael Hoenig, Agitation Free, Rolf Trostel und viele andere. Heute veröffentlicht Bernd Kistenmacher auf MIRecords ausschließlich eigene Produktionen.
Bernd Kistenmacher war der erste unabhängige Produzent, der Mitte der Neunziger Jahre und vor dem Siegeszug des Internet die Multimedia-Produktion „The M.I. Rainbow Collection“ produziert und veröffentlicht hat. Schon damals interessierte ihn die Verbindung aus unveröffentlichter Musik und Bereitstellung von Hintergrundinformationen über die jeweiligen Künstler mittels integrierter Datentracks. Damals ein absolutes Novum.
Heutzutage ist Bernd Kistenmacher als freier Autor für diverse Musikmagazine und –Plattformen tätig. 2020 hat er seinen eigenen YouTube Kanal „Freak Out Your Synth“ aufgebaut, auf dem er ausgewählte Synthesizer in Bild- und Ton vorstellt.
Das Buch “FERNE ZIELE – Geschichten über die Berliner Schule für elektronische Musik” von Bernd Kistenmacher ist weiterhin erhältlich und kann sofort über den Shop der Edition Mahlstrom bestellt werden. Die Lieferung erfolgt binnen weniger Tage.
Hier der Link zum Shop https://www.edition-mahlstrom.de/
Mein Kollege Jan Reetze hat im Manofistas Blog eine schöne Rezension über FERNE ZIELE geschrieben. Vielen Dank dafür und zu lesen HIER:
Link zum Manofistas Blog
von Bernd Kistenmacher
In den Kellerräumen einer ehemaligen Berufsschule in der Pfalzburger Straße in Wilmersdorf befand sich das legendäre „Electronic Beat Studio“. Die Geburtsstätte der „Berliner Schule für elektronische Musik“. Bernd Kistenmacher hat diese Geschichte aufgeschrieben.
Große und großartige Geschichten fangen immer im Kleinen und Unbedeutenden an. Anfangs ahnt man nicht, wozu etwas gut soll sein oder wozu es dienen könnte. Vielleicht will man darüber auch gar nachdenken, wenn man etwas Neues ausprobiert und neue Wege geht. Schließlich heiligt auch der Selbstzweck die Mittel.
Das ist das Bild, das ich im Kopf habe, wenn ich über die kleinen Geschichten in meinem West-Berliner Kiez nachdenke. Eine dieser Geschichten fängt in Eichkamp an. Wir schreiben das Jahr 1965. So ungefähr jedenfalls. Zur Schule gehen, war nie der größte Spaß im Leben. Es sei denn man war „Everybody’s Darling“ oder – noch besser – man spielte ein Instrument und trat in einer Schülerband auf. Schülerbands waren toll. Man schrammelte was das Zeug hielt, klopfte auf selbstgebauten „Schlagzeugen“ aus Persiltrommeln und spielte angloamerikanische Musik mehr schlecht als recht. Beat Musik eroberte das Radio und die einschlägigen Musikschuppen, die damals noch keine Diskotheken oder gar Clubs gewesen sind.
Eine dieser Schülerbands hieß The Tigers. Sie bestand zunächst aus den Musikern Lutz „Lüül“ Ulbrich (Gitarre, Gesang), dem Noch-Schlagzeuger Christopher Franke und dem Bassisten Klaus-Jürgen Niemitz . Alle waren Freunde und Schulkameraden, die die Waldschule in Eichkamp besuchten. Man spielte Songs der Beatles und weiteres, damals übliches Repertoire. Das „Bäumchen-wechsel dich“-Spiel war durchaus Bestandteil eines Entwicklungsprozesses. Die Band wurde größer und man nannte sich The Sentries. Das war so um 1967. Der Mitschüler Michael „Fame“ Günther sprang ein, als der Mann am Bass ersetzt werden musste. Fame spielte zuvor bis 1966 mit dem Gitarristen Lutz „Ludwig“ Kramer in einer weiteren Schülerband, die vorwiegend Rhythm & Blues spielte und die sich dann ebenfalls auflöste. So stieg nach Fame auch Lutz „Ludwig“ Kramer bei den ehemaligen The Sentries ein. Aus all diesen Kooperationen kristallisierte sich langsam so etwas wie eine Band heraus, die zunehmend ernsthaft Rockmusik spielte. Für eine kurze Zeit machte auch der Sänger Michael „Mickie“ Duwe mit, bevor dieser mit dem Musical HAIR erste Erfolge feierte.
Die Zeit für Veränderung war gekommen. Man wurde politisch, hinterfragte das Verhalten der Eltern in der Nazi-Zeit, hatte etwas gegen den amerikanischen Imperialismus. Der Vietnamkrieg trug sein Übriges dazu bei. Und überhaupt war alles in dieser Zeit durchwoben von dem Willen nach Veränderung. Einige Veränderungen waren radikal und brachten das kleine West-Berlin, wie auch die junge Bundesrepublik an den Rand ihrer Belastbarkeit. Andere Veränderungen betrafen eher das tägliche oder besser das künftige Leben. Also das, was man wollte und was man auf keinen Fall mehr wollte. Utopien wurden ersonnen, ausprobiert und auch wieder verworfen. Konflikte bis rein ins Elternhaus waren vorprogrammiert. Irgendwie war damals alles politisch. Kunst war politisch. Erziehung war politisch. Architektur war politisch. Alles war politisch. Und Rockmusik wurde es halt auch. Man wollte progressiv sein und agitierte, was das Zeug hielt. Da unsere bislang namenlose Band aus Eichkamp genau in diesem Kraftfeld unterwegs war und oft in einem politisierten, studentischen Umfeld Auftritte hatte, wurde das Programm alsbald zum Namen. Ob es nun Zufall oder der konkrete Vorschlag des Mixed-Media Künstlers Folke Hanfeld gewesen ist, der die Band visuell bei zahlreichen „Aktionen“ unterstützte (wie zum Beispiel Ölfilmprojektionen mit Projektoren zu machen, bei denen auch mal das eine oder andere Insekt dran glauben musste), sei dahingestellt. Jedenfalls gab sich die Band nun den durchaus griffigen Namen The Agitation, aus dem dann so ca. 1968 der bis heute existierende Bandname Agitation Free werden sollte. Ein Name, der in keinem Lexikon über Rockmusik fehlt. Progressiver und improvisatorischer wurde die Musik von The Agitation durch den Musiker Lutz „Ludwig“ Kramer. Der war zuvor nach London gereist und hatte bereits mitbekommen, was dort im Bereich der Rockmusik ausprobiert wurde. Pink Floyd waren Vorreiter in Sachen „psychedelic und progressive Rock“ und fortan wurde auch bei Agitation Free an längeren Improvisationsbögen gearbeitet. Die Band wurde experimenteller und sie wurde schnell zur Hausband des von Conrad Schnitzler mitgegründeten Zodiac Clubs in Kreuzberg, in dem neben vielen anderen Künstlern zum Beispiel auch die Band Tangerine Dream spielte. Der Musiker Christopher Franke hatte sich zu dieser Zeit bereits als hervorragender Schlagzeuger erwiesen, spielte zu dieser Zeit aber noch bei Agitation Free mit. Genauso wie ein gewisser Klaus Schulze, der zeitweilig bei Tangerine Dream, dann bald aber auch bei der Berliner Band Ash Ra Tempel trommelte. Beide Namen, die von Franke und von Schulze, werden uns hier noch in einem anderen Zusammenhang wiederbegegnen.
Christopher Franke wohnte noch bei seinen Eltern in einem Häuschen in Eichkamp und übte Schlagzeug im Keller. Manchmal spielte auch die ganze Band dort. Man kann sich vorstellen, dass das nicht wirklich leise vonstattenging. Alternativen, wie zum Beispiel vernünftige Übungsräume, gab es im noch ziemlich vom Krieg zerstörten West-Berlin nicht. Immerhin war man im Frankeschen Haushalt wohl ziemlich tolerant und darüber hinaus auch sehr musikalisch. Frau Franke, die Mutter von Christopher, war Geigenlehrerin und spielte im Berliner Barock-Orchester, dass von dem Musiker Konrad Latte aufgebaut und geleitet worden ist. Konrad Latte war zugleich auch Leiter der Musikschule Berlin-Wilmersdorf. Ein Umstand, der für diese Geschichte von besonderer Wichtigkeit ist, denn in dieser Funktion verfügte Konrad Latte über ein gewisses Budget z.B. zur Anschaffung von Musikinstrumenten. Nun kam Mutter Franke ins Spiel. Sie überzeugte Konrad Latte davon, nicht verwendetes Geld in eine junge Band aus Eichkamp und in die Anmietung eines geeigneten Raums zu investieren, damit dort unter Anleitung eine Art Proberaum / Studio aufgebaut werden könnte. Nachdem Christopher Franke begonnen hatte den Boden des elterlichen Kellers auszuheben, um mehr an Deckenhöhe zu gewinnen, traf Konrad Latte die richtige Entscheidung im richtigen Moment und willigte ein. So wurden dann zwei Kellerräume in der Berufsschule für Frisöre in der Pfalzburger Straße 30 angemietet und umgehend von den Jungs von Agitation Free mit Eierpappen schallisoliert. Das war der Beginn des Beat Studio, dass in diesem Moment noch überhaupt nicht „Electronic“ gewesen ist. Es fehlte an Technik und an einem Lehrer, der Lust und Interesse an dieser Form von Jugendarbeit hatte. Und auch hier fand Konrad Latte die passende Lösung in dem aus der Schweiz stammenden und in Berlin Musik studierenden Komponisten Thomas Kessler.
Thomas Kessler wurde 1937 in Zürich geboren und kam der Liebe und des Studiums wegen in den frühen sechziger Jahren nach Berlin. Hier studierte er bei Heinz Friedrich Hartig, Boris Blacher und Ernst Pepping. „Neue Musik“ war mehr sein Ding als Barock-Musik. Dennoch kannte er Konrad Latte gut, der ihn dann fragte, ob er die Leitung des Beat Studio übernehmen wolle. Und Kessler wollte. Da er bereits erste Erfahrungen in der Produktion von elektronischer Musik in seinem eigenen Heimstudio gemacht hatte, war er genau der richtige Mann an der richtigen Stelle. Agitation Free wurden seine ersten „Schüler“. Von nachmittags an, also immer nach Schulschluss, bis so ca. um 22.00 Uhr abends wurde gearbeitet. Kessler brachte ihnen Grundlagen in Komposition und Musikproduktion bei. Experimente mit Tonbandmaschinen waren an der Tagesordnung. Tonbänder mit Aufnahmen wurden umgeschnitten und die Schnipsel zu neuen Musikstücken zusammengefügt. Bandmaschinen wurden zu Echogeräten umfunktioniert. Es wurde viel Musik gehört und darüber diskutiert. Insgesamt ging es darum, den Horizont zu erweitern, den einengenden Rockmusik-Bereich zu verlassen und die musikalischen Möglichkeiten zu erweitern.
Das, was da in der Pfalzburger Straße passierte, sprach sich schnell in der West-Berliner Szene herum. Und so stießen alsbald Tangerine Dream, die Band von Edgar Froese, sowie die Formation Ash Ra Tempel dazu. Ash Ra Tempel (vormals Steeple Chase Blues Band) bestand aus dem Gitarristen Manuel Göttsching, dem Bassisten Hartmut Enke und Klaus Schulze am Schlagzeug. All diese Musiker bekamen schnell mit, welche neuen Klangmöglichkeiten sich durch Thomas Kesslers Arbeit auftaten. Und das liegt vor allen Dingen an zwei Umständen, die Kessler nicht hoch genug angerechnet werden können. Zum einen war das die Tatsache, dass er der erste gewesen ist, der die Musik von La Monte Young, Steve Reich oder Terry Riley mitbrachte und den Musikern vorspielte. Deren richtungsweisende Arbeiten gehörten zur sogenannten „American Minimal Music“. Auf besonderes Gehör fiel hier zum Beispiel das Stück „A Rainbow in Curved Air“ von Terry Riley, eine hypnotisch-repetitive minimalistische Musik, die schon viel von dem vorwegnahm, was bald als „Berliner Schule für elektronische Musik“ in die Geschichte eingehen sollte. Der zweite Umstand, dessen Thomas Kessler sich rühmen darf, ist eher praktischer Natur und hatte einen noch größeren Impact als das reine Vorspielen neuer Musik. Thomas Kessler war der erste, der in Berlin einen Musik-Synthesizer einsetzte. Synthesizer waren um 1970 der letzte Schrei in Sachen Musikproduktion. Man hatte zwar vorher schon mit Soundgeneratoren in der Musik gearbeitet und Robert A. Moog war seit wenigen Jahren mit sündhaft teuren Modularsynthesizern am Markt. Was Thomas Kessler aber mitbrachte, war in seiner Kompaktheit und in seinen umfangreichen Klangerzeugungs- und bearbeitungsmöglichkeiten etwas vollkommen Neues. Etwas, das man hier noch nicht gesehen hatte. Kessler war dafür eigens nach London zu der Firma EMS (Electronic Music Studios) gefahren, um ein koffergroßes Gerät namens Synthi A zu kaufen. Da stand es nun im Beat Studio und das dürfte dann auch der Grund für die bis heute gültige Namensgebung Electronic Beat Studio sein (obwohl natürlich damals alle immer nur ins Beat Studio gegangen sind).
Auf dieses Instrument, mit dem beliebige Klänge von Vogelzwitschern bis hin zu Meeresrauschen erzeugt werden konnte, stürzten sich im Folgenden vor allem drei Musiker, von denen man das zunächst nicht erwartet hätte. Das waren eben Christopher Franke, Klaus Schulze und der neu zu Agitation Free gestoßene Berliner Michael Hoenig, der vorher bereits in der Szene als Mitherausgeber der Underground-Zeitung LOVE aktiv gewesen war. Jeder für sich war von den Möglichkeiten dieses Instruments absolut begeistert. Alle fuchsten sich in diese Maschine dermaßen rein, dass sie bald zu Erfindern einer neuen Musik werden sollten. Franke und Schulze spielten zwar noch eine Weile Schlagzeug, sollten aber bald ihre Trommelstücke für immer an den Nagel hängen.
Edgar Froese hatte zwischenzeitig Christopher Franke als Schlagzeuger von Agitation Free abgeworben. Für ihn sprang der später über die Stadtgrenzen hinaus bekannte RIAS Moderator Burghard Rausch ein. Franke beschäftigte sich dann aber zunehmend nur noch mit Synthesizern, sodass Tangerine Dream Anfang der siebziger Jahre neben der Düsseldorfer Band Kraftwerk zu DER deutschen Elektronikband werden sollte, die bis zu Edgar Froeses Tod im Jahr 2015 eine weltweit große Bekanntheit erlangen sollte. Klaus Schulze wiederum verließ die Band Ash Ra Tempel und widmete sich ausschließlich seine Solo-Karriere als Elektronik-Musiker. Er war neben Tangerine Dream der Elektronikpionier überhaupt. Auch seine Popularität ging weit über die europäischen Grenzen hinaus. Michael Hoenig hatte Mitte der siebziger Jahre mit seinem Solo-Album „Departure From The Northern Wasteland“ einen der Elektronikmeilensteine schlechthin erschaffen. Es folgte eine Karriere als Filmkomponist in Hollywood. Dort war Hoenig maßgeblich zusammen mit Walter Bachauer an dem Soundtrack zu Godfrey Reggios Koyaanisqatsi beteiligt. Er ist auch heute noch bei Agitation Free der Mann an den Keyboards (ja, die Band gibt es noch). Der vierte in diesem Bunde ist Manuel Göttsching, der sehr frühzeitig mit klanglicher Verfremdung seines brillanten Gitarrenspiels auf sich aufmerksam machte und sich der Musikelektronik erst später als Solist gewidmet hat. Mit dem Album „New Age Of Earth“ und Jahre später mit dem Album „E2E4“ hat er ebenfalls elektroakustische Meilensteine geschaffen, die ohne jeden Zweifel in die „Hall-Of-Fame of Electronic Music“ gehören.
All diese Bands und Musiker haben die „Berliner Schule für elektronische Musik“ erschaffen und in gewisser Hinsicht auch besucht, auch wenn im Electronic Beat Studio nicht wirklich jemals Schulunterricht stattgefunden hat. Der Einfluss Thomas Kesslers auf die Arbeiten dieser Musiker ist nicht von der Hand zu weisen. Was Konrad Latte ermöglicht hat und was Thomas Kessler realisiert hat waren echte Pioniertaten.
Doch auch dem Electronic Beat Studio standen Veränderungen bevor. Zum einen hatten alle Bands der Berliner Schule ihre Karrieren soweit zum Laufen gebracht, dass weitere Arbeit dort gar nicht mehr möglich und nötig gewesen ist. Alleine das sich schnell anhäufende Instrumentarium, konnte in diesem kleinen Studio kaum noch bewegt werden. Und auch Thomas Kessler verlies das Studio und Berlin Anfang 1973. Für ihn sprang der Musiker und Kabarettist Rolf Bauer ein. Unter seiner Leitung wurde das Studio weiter zu einem echten Tonstudio ausgebaut; hatte er mit dem Techniker Gerd Bluhm doch den perfekten Partner an seiner Seite. Rolf Bauer sorgte für mehr Struktur im Studioalltag. Bands mussten sich anmelden und in eine Liste einschreiben. Alles war gut organisiert. Es wurde konkret an den jeweiligen musikalischen Projekten der Bands gearbeitet, ohne das Diskussionen über Musikstile oder Ansichten darüber die Zeit zum Arbeiten raubten. Die Bands sollten ihr Programm schaffen und die Stücke sauber einspielen können, damit sie vernünftige Demo-Aufnahmen mit nach Hause nehmen konnten. Darauf kam es Rolf Bauer letztlich an. Bauer hatte gute Drähte zum damaligen Berliner Senat (es gab damals sogar noch einen Senats-Rockbeauftragten), wodurch die technischen Möglichkeiten im Laufe der Jahre deutlich erweitert worden sind. Nach Rolf Bauers Weggang übernahm schließlich Gerd Bluhm das Studio und leitete es bis zu dessen endgültiger Schließung im Alleingang. 1984 musste man aus der Pfalzburger Straße ausziehen. Das Electronic Beat Studio blieb weiterhin in Wilmersdorf und zog in die Halensee-Grundschule in der Joachim-Friedrich-Straße 35-36 um.
Das Studio war jahrelang die erste Adresse für die Gewinner der damaligen Senatsrockwettbewerbe. Hier gab es den Startschuss für die Karrieren vieler Bands und Künstler, die später sehr bekannt werden sollten. Nicht nur Tangerine Dream und Agitation Free hatten im Electronic Beat Studio gearbeitet, sondern auch die Neonbabies, Ideal, die Klaus Lage Band oder Rammstein, die dort einige Demos für ihr „Herzeleid“ Album eingespielt haben und natürlich viele andere Musiker.
Nach der Berliner Bezirksreform im Jahr 2001 war das Electronic Beat Studio keine ausschließlich Wilmersdorfer Angelegenheit mehr. Die Halensee-Grundschule meldete Eigenbedarf für die Räume an. Dem Electronic Beat Studio wurde daraufhin gekündigt. Geld zur Anmietung neuer Räume gab es nicht, was 2007 zur endgültigen Schließung des Studios führte. Das war das wenig rühmliche Ende des legendären Wilmersdorfer Electronic Beat Studios. Dennoch sollte diese einzigartige Wirkungsstätte nicht vollkommen in Vergessenheit geraten.
Am 04. Dezember 2020 wurde im Rahmen einer kleinen Feier an der Außenwand der Nelson-Mandela Schule in der Pfalzburger Straße 30 in Berlin-Wilmersdorf eine Gedenktafel zu Ehren des Electronic Beat Studio und aller damals beteiligten Pioniere der Berliner Schule für elektronische Musik enthüllt.
Der Autor Bernd Kistenmacher ist ein fester Bestandteil der zweiten Generation der „Berliner Schule für elektronische Musik“. Er wurde im Oktober 1960 in Berlin geboren und verbrachte seine Jugend im Westteil der Stadt. Schon in frühen Jahren wurde er von den damals neuen Klängen der progressiven Rock- und Avantgarde Musik beeinflusst. Anfang der 70er Jahre begeisterte ihn die Musik von Künstlern wie Klaus Schulze und Bands wie Tangerine Dream oder Ash Ra Tempel. Die vollständige Geschichte des Electronic Beat Studios, sowie Gespräche mit 35 Zeitzeugen aus dem Umfeld der Berliner Schule hat Bernd Kistenmacher in seinem Buch „FERNE ZIELE – Geschichten über die Berliner Schule für Elektronische Musik“ aufgeschrieben.
Ferne Ziele – Geschichten über die Berliner Schule für elektronische Musik
Bernd Kistenmacher
Preis: 69.00€ 788 Seiten. Hardcover, gebundene Ausgabe
ISBN 978-3-00-075096-0
In der aktuellen Ausgabe des Eclipsed Magazin (Juli/August 2023) gibt es eine sehr positive Besprechung des Buches FERNE ZIELE von Bernd Kistenmacher.
Das Magazin gibt es ab sofort als Printversion in gutsortiertem Zeitungshandel und hier als E-Paper.
Gekauft werden kann das Buch noch immer über den Webshop der Edition Mahlstrom.
FERNE ZIELE – Geschichten über die Berliner Schule für elektronische Musik ist ab sofort wieder lieferbar (Juni 2023).
Nach ein paar Wochen des wartens gint es nun wieder reichlich Nachschub.
Wer noch einmal zur “Schule” gehen und spannende Geschichten über einen der wichtigsten Beiträge zur Rockmusik aus Deutschland lesen möchte, sollte sich dieses Buch nicht entgegehen lassen.
FERNE ZIELE kann auf der Website der Edition Mahlstrom bestellt werden.
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