FERNE ZIELE – Teil 4 – Thomas Kessler – Electronic Beat Studio

 

An dieser Stelle werden exklusiv Auszüge aus Bernd Kistenmachers Buch “FERNE ZIELE – Geschichten über die Berliner Schule für elektronische Musik” veröffentlicht. Diese Aktion soll dabei helfen, dieses beinahe 800 Seiten starke Werk besser kennenzulernen und darauf neugierig zu machen. Ihr dürft euch also auf eine Menge spannender und interessanter Geschichten rund um die Berliner Schule für elektronische Musik freuen.

Weiter geht es mit einem Auszug aus einem Gespräch mit dem Gründer des Electronic Beat Studio, dem Komponisten Thomas Kessler.

Im Zentrum der Möglichkeiten. Der Komponist Thomas Kessler

Im Zentrum der Möglichkeiten – Ein Gespräch mit Thomas Kessler

…Es geschah in Berlin unheimlich viel. Es war für mich in meinem Alter eher selbstverständlich. Genau deshalb war ich nach Berlin gekommen.

Du bist gebürtiger Schweizer und hast dort auch deine Ausbildung bzw. Studium gemacht?

Ja. Ich habe meine ersten zwölf Jahre in Zürich verbracht, bis nach der Grundschule. Dann haben mich meine Eltern in ein Internat gesteckt, weil ich ein bisschen wie das schwarze Schaf war in der Familie. Sieben Jahre verbrachte ich dann also in einer Klosterschule in den Bergen in Disentis. Ich würde es niemandem empfehlen, aber ich habe das Beste daraus gemacht. Ich sang jeden Sonntag gregorianischen Choral, es gab also auch einige Dinge, die durchaus sehr gut waren.

In Hinsicht auf Charakter- oder auch fachlicher Bildung?

Auch Freundschaften sowie die strenge Hausordnung, die man stets versucht hat, zu durchbrechen. Ich habe dort also gelernt, wie man Grenzen überschreitet, Aus- und Umwege gesucht und andere Ziele verfolgt. Etwas was später auch in der Musik so geblieben ist. Ich habe im Kloster noch mein erstes Stück komponiert für die Blasmusik zum Geburtstag des Pater Godehard, der hat immer auf uns aufgepasst. Ich hatte mir dann beim Komponieren gedacht, dass es für die Blasmusik so kräftig sein sollte, wie es sonst nie war. Da sollte noch etwas passieren, was noch einen Akzent gibt zur Eröffnung des Geburtstages. Am Ende des Tischgebetes zum Frühstück, vorher durfte man nicht sprechen, hat Pater Godehard jeweils mit dem Glöckchen geklingelt und das bedeutete, dass wir von dort an reden durften. Es ist ganz interessant, was dort passiert an Kommunikation, ohne dass man spricht. Kurz nach dem Tischgebet dachte ich mir, jetzt ein Böllerschuss und dann fängt die Musik an zu spielen, aber wie bekomme ich einen Böller hin, der richtig knallt wie einen Schuss? Ich hatte keine Erfahrung. Im Kloster gab es so etwas nicht. Aber ich konnte aus der Schlosserei mit Sauerstoff, Acetylen und Luftballons eine Ballontraube basteln und auffüllen. Das war eigentlich unglaublich gefährlich, aber naiv wie ich war, habe ich mich mit einer Autobatterie im Klosterhof in Deckung begeben. Dann hörte ich das Tischgebet, durch die Aufforderung meiner Freunde ließen sie die Fenster offen, es war schon beinahe Sommer. Nachdem ich das Glöckchen hörte, hielt ich den Kontakt an die Batterie und dann habe ich viel mehr den Luftdruck als den eigentlichen Knall wahrgenommen. Ebenfalls nahmen 150 Fenster im Klosterhof diesen Druck wahr, indem sie sprangen. Anschließend rieselte von allen Fenstern das Glas herunter. Die Blasmusik hat mit meinem Stück jedoch nicht eingesetzt, die waren völlig schockiert. Langsam erschienen Köpfe an den Fenstern und schauten, was dort passiert war. Es war schrecklich. Das müsste 1956 gewesen sein.

Was aber garantiert a) Die Aufmerksamkeit aller und b) und einen Termin beim Direktor einbrachte, oder?

Nichts, aber auch überhaupt nichts gab es. Man wusste nicht, wo man das einordnen sollte. Natürlich war es für mich ein musikalisches Ereignis und ich glaube, das Kloster hat es auch irgendwie so empfunden. Es wurde keinerlei Strafe verordnet. Ich habe fest damit gerechnet, dort von der Schule zu fliegen. Nachdem ich dort die Schulzeit absolviert hatte mit Abitur, ging ich dann auf die Universität nach Zürich zurück, weil meine Eltern wollten, dass ich etwas Anständiges lerne. Da gab es die Ausbildung zum Lehrer, höhere Stufe. Das war damals an der Uni und man konnte bei den besten Leuten Deutsch, Französisch, Geschichte und Psychologie usw. lernen. Das war ein tolles Studium. Deshalb habe ich auch in einem Seminar den Unterricht bei Paul Hindemith genießen können. Das war faszinierend. Er hat mich auch weiter in die Chormusik hineingebracht. Daraufhin hatte ich in dem Bereich mein Diplom erhalten, die Eltern waren zufrieden und dann ging es ab nach Berlin.

Waren deine Eltern musikalisch?

Meine Eltern waren durchaus musikalisch, aber Musik galt in der Schweiz als kein Beruf, sondern mehr als Hobby oder Zeitvertreib.

Gab es denn keine Orchester oder Dirigenten?

Ja natürlich, sehr gute, aber Berlin war wie eine andere Welt für mich.

Weshalb genau nach Berlin?

Das hängt weitestgehend mit einer damaligen Bekanntschaft zusammen, welche meine erste Frau wurde. Mit ihr habe ich auch meinen Sohn bekommen und dort auch geheiratet. Die Liebe hat mich also dorthin verschlagen. Sie war auch Musikerin und musste in Berlin weiterstudieren. Sie kam auch aus Deutschland, das war alles in allem ein glücklicher Zufall, dass man sich verliebt und dann direkt mitgeht.

Also habt ihr fest in Berlin gewohnt und auch Familie gehabt?

Ja genau, für etwa 15 Jahre am Breitenbachplatz in Dahlem. Ihr Onkel hatte dort ein vollkommen vergammeltes Haus neben seinem Antiquitätenhandel in Bad Homburg. Gleich am Anfang der Schorlemerallee in einem der kubischen Häuser habe ich dort gewohnt. Ich habe an der Hochschule für Musik studiert bei Blacher (Boris Blacher), Hartig (Heinz Friedrich Hartig) und Pepping (Ernst Pepping). Das war eine sehr gute und konventionelle Ausbildung, aber wie ich schon erwähnt habe, waren meine Ideen bereits zu der Zeit auf dem Gymnasium grenzüberschreitend. Für mich waren das wunderbare Grenzen, diese konservative Ausbildung, das klassische, dieser Kontrapunkt und alles. Man muss jedoch erst einmal zu dieser Grenze kommen, bevor man sie überschreiten kann. Man kann nun mal keine Grenzen überschreiten, die man nicht einmal erreicht. In meiner Familie galt ich zwar als schwarzes Schaf, auch wenn ich gar keins war. Ich war der einzige Sohn von sechs Kindern, der sich nie mit den Eltern zerstritten hat oder den Kontakt abgebrochen hat. Alles in Allem waren Kindheit, die Zeit auf dem Gymnasium und die Berliner Zeit tolle Etappen in meinem Leben. Berlin war damals enorm hart, für einen Studenten, den die Eltern nicht unterstützen, weil sie dachten, dass ich ein fertiges Studium hatte und auch in der Schweiz arbeiten hätte können, aber dennoch nach Berlin gegangen war. Sie ließen mich gehen. Das konnte ich machen, aber dafür habe ich keine finanzielle Unterstützung erhalten, was im Nachhinein auch gut gewesen ist. Ich habe dann Kinder an einer Volksmusikschule unterrichtet mit Orff-Instrumenten.

War das alles zur Zeit des Mauerbaus?

Kurz davor. Während ich in den Ferien zu Besuch in der Schweiz war, begannen die Bauarbeiten und als ich dann wiederkam, war die Mauer komplett da. Dadurch wurde Berlin sehr inselhaft. Ich denke, das war auch einer der Gründe, weshalb so viele Gruppen wie zum Beispiel Agitation Free und Tangerine Dream aus diesen Grenzen ausbrechen wollten. Physisch war es schwierig, man musste durch die Zone reisen. Mit dem Zug hat das gut und gerne mal acht Stunden gedauert, was heutzutage eine Stunde dauert. Da wurden noch Lokomotiven umgehängt, teils fuhr der Zug dann eine Stunde lang wieder rückwärts. Das schien ein Gefühl zu schaffen, weswegen man ausbrechen wollte. Da sich dies physisch jedoch recht schwierig gestaltete, versuchte man zumindest in den Musikgenres auszubrechen. Es gab damals fantastische Leute in Berlin. Ich habe zum Beispiel Enzenzberger (Hans Magnus Enzensberger) und vor allem ganz viele Komponisten kennengelernt, die man mit dem akademischen Austauschdienst nach Berlin eingeladen hatte. Von John Cage bis hin zu guten Freunden wie Vinko Globokar, die es bis heute geblieben sind. Eine sehr lange Liste von Leuten, die ich gut kennengelernt habe, da es sonst recht wenige Berliner Komponisten gab.

Kanntest Du auch Konrad Latte?

Konrad Latte, der war damals Leiter der Musikschule in Wilmersdorf gewesen. Ich kannte ihn von seinem Barock Orchester her. Er bot mir damals an etwas im Beat Studio zu machen. Das habe ich auch direkt angenommen.

Entschuldige, dass ich hier unterbreche, aber ursprünglich hat das die Mutter von Christoph Franke initiiert, oder?

Die Mutter von Christopher war eng mit Konrad Latte befreundet. Ich habe sie nie selbst kennenlernen dürfen, aber Christoph war der erste, den ich dort kennengelernt habe. Er hatte von seinen Plänen erzählt, dass das Studio weiter ausgebaut wird, dass Eierkartons angebracht werden. Darauf bauten wir zusammen die Räume weiter aus und ich bekam ein Budget von 10.000 DM, um Tonbandgeräte zu kaufen. Später konnte man da noch einiges dazubekommen. Wenn am Ende des Jahres im Bezirksamt ein Töpfchen noch nicht ganz leer war, gab man das dem Beat Studio.

Das muss ja um 1968 gewesen sein. Wie kann man sich das vorstellen? Durch seine jüdische Herkunft hatte Konrad Latte eine grauenhafte Vergangenheit erlebt.

Das ist wahr. Auch wenn ich seine musikalische Richtung nicht bewundert bzw. geteilt habe, fand ich es dennoch großartig, dass wir zusammen das mit dem Studio gemacht haben. Es war klasse, dass er sich mit seinem klugen Verstand für uns eingesetzt hatte, dass wir die Räumlichkeiten bekommen haben, obwohl er nicht unseren Musikgeschmack geteilt hatte.

Er hatte ursprünglich ein Budget für ein neues Piano oder dergleichen, also eine ganz profane Angelegenheit, aber er hat dieses Budget dann dafür aufgeopfert. Die Räumlichkeiten wurden angemietet,

Das war in einem Schulgebäude in der Pfalzburger Strasse 32 in Wilmersdorf. Christoph Franke hatte dann noch einige Freunde angeschleppt, das waren die späteren Agitation Free Leute. Noch später hatte er Edgar Froese im Schlepptau und so ging die Geschichte weiter, aber das lebte von dem Tag an, als wir dort eingezogen sind und das ausgebaut hatten, einiges installiert haben, da war das ein Treffpunkt. Ich war eigentlich auch noch ein Musikstudent zu dieser Zeit. Ich hatte lediglich mein Diplom als Pädagoge in der Schweiz, das war eine äußerst fundierte Ausbildung. In Berlin war ich Studierender mit bereits einigen Jahren Erfahrung. Ich habe sehr lange studieren können, weil gerade Pepping, der im Kontrapunkt ein Meister und Könner war, mich behalten wollte und mich beinahe davon abgehalten hatte, das Diplom zu machen. Ich habe gleichzeitig zum Studium die Pfalzburger Straße angepackt.

Also war es so, dass jemand daherkommt mit einem Budget und der Frage, ob du Lust hättest, ein Studio aufzubauen?

Ja, so war es.

Und wie geht man dann genau vor?

Ganz intuitiv, indem man auf Freunde hört. Christoph Franke war zwar klassisch vorgebildet, er war ein sehr guter Schlagzeuger. Ich glaube, er hat auch Trompete gespielt. Aber er war noch kein großer Pop- oder Rockmusiker so wie Edgar Froese, sondern er hat neue Wege gesucht.

Er war dann also immer der Klangforscher?

Absolut. Er war immer stark introvertiert. Ich habe ihn sehr geschätzt, weil er so tief dachte. Er ist einmal nach Frankreich mitgekommen, als ich eine Musiktheaterstelle angenommen hatte für eine kurze Zeit und ich vermittelte ihn dann auch an einen Lehrer der hervorragenden Les Percussions de Strasbourg, welche dort sehr bekannt sind. Sie wollten ihn auch nehmen, aber er hat dann abgelehnt. Er suchte seinen eigenen Weg. Ich habe auch gehört, was in Köln los war. Dort war die große Welt, wenn es um elektronische oder auch neue Musik ging. Da gab es auch den Westdeutschen Rundfunk und Studios, doch Berlin war im Gegensatz dazu eine Insel. Hier gab es nicht einmal richtige Tonbandgeräte, die man bedienen durfte. Die Hochschule hatte welche, aber als Student durfte man dort nicht hinein. Im SFB (Sender Freies Berlin) und im RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) gab es natürlich auch tolle Tonbandgeräte, aber auch dort war einem der Zugang als Student verwehrt. Sogar John Cage kam zu uns in das Beat Studio hinunter und war dankbar, dass er ein Tonband kopieren durfte, denn wir hatten glücklicherweise immerhin drei gute Geräte mit 38cm Geschwindigkeit.

Aber die technischen Impulse für das Beat Studio hat dann Christoph gegeben? Oder ist das innerhalb einer Diskussion entstanden? Du hast dich dann ja auch in das Thema elektronische Klangbearbeitung hineingearbeitet.

Nein, ich hatte davor bereits ein Studio. Es gibt sogar einen UNESCO-Report von früher von meinem kleinen Privatstudio in Wedding, welches ich in einer Ladenwohnung eines Freundes eingebaut hatte. Mein Bruder kam irgendwann nach Berlin und brachte drei Tonbandgeräte von Revox mit, womit man sehr gut produzieren konnte. Ich habe dort auch einige Stücke gemacht, unter anderem für die Tanzgruppe Motion.

Ein Stück machen bedeutet Noten schreiben oder Musik spielen?

Nein, elektronisch gearbeitet. Also mit Aufnahmen.

Mitte der sechziger Jahre?

Genau. Verarbeitet zu Schleifen und kopiert, mit einem anderen Gerät wieder aufgenommen und zusammengemischt. Weitestgehend war dies Musique Concréte.

Im Grunde genommen hast du frühes Sampling betrieben?

Frühes Sampling, eher Musique Concréte. Ich hatte keine Sinusgeneratoren. Es war sehr dürftig, aber man konnte mit geschickten Griffen sehr viel machen. Es gibt ein Stück, das wird von mir ab und an gespielt, Beat for Orpheus. Das ist eine ganz simple Herstellung gewesen, aber mein Lehrer Boris Blacher war begeistert.

Das waren dann so Sachen, die du im Rahmen deines Studiums gemacht hast? Also hast du in Wedding ein kleines Studio gehabt und warst dadurch vorgebildet, was diese Technik angeht.

Richtig. In dem besagten UNESCO-Report sind alle elektronischen Studios der Welt aufgezählt und sogar mein kleines Privatstudio wurde dort erwähnt.

Da gibt es den Begriff der Berliner Schule für elektronische Musik. Gemeinhin wird das mit den Ergebnissen von Tangerine Dream, Klaus Schulze aber auch Manuel Göttsching verbunden, diese Sequencer-orientierte Musik. Als ich mit Lutz Kramer gesprochen habe, ist er auf einen ganz anderen Aspekt gekommen. Nämlich, dass er die Art des Musizierens und Improvisierens der Band (zuerst The Agitation, dann Agitation Free) fernab von den Rhythmen amerikanischer Pop- und Rocksongs entwickelt und etabliert hatte. Das Element der Improvisation wurde dann bei dir im Studio ja aktiv eingesetzt.

Ja natürlich. Es gibt viele verschiedene Ansätze, es wird nie etwas einzig durch eine Person ausgelöst. Es ist immer eine Zeiterscheinung. Ich war damals eine Zeit lang auch Mitglied in einer Gruppe namens „Neue Musik“, das war die einzige Gruppe von Komponisten von der akademischen Seite, die Konzerte gemacht haben. Wir haben auch Konzerte gemacht, die die ganze Nacht lang gingen. Dort habe ich für ein Konzert die Tangerine Dream eingeladen. Da waren ganz verschiedene Leute, die es uns ermöglicht hatten, ein Konzert voller Improvisationen zu machen. Was als besondere Errungenschaft geschrieben wird, dass während eines Konzertes ein Musiker in New York spielt, der andere in Berlin und der Dritte in Tokio, das setzten wir bereits innerhalb Berlins um. Wir hatten einen wunderbaren Techniker von der Post, der uns Leitungen bereitgestellt hatte, dass wir in einer Kirche, in der Akademie der Künste und noch zwei weitere Orte miteinander vernetzt waren, wodurch wir Improvisationsgruppen von anderen Künstlern und Gruppierungen quasi „live“ dazu holen konnten. Alle konnten, sofern sie wollten, alles von den anderen Gruppen hören und dazu spielen, aber auch die Übertragung der anderen unterbinden und allein spielen. Vor Ort waren der Engländer Cornelius Cardew mit seinem Scratch Orchestra und die Gruppe Nuova Consonanza aus Rom, wo auch Ennio Morricone als Trompeter dabei war und eine weitere Gruppe. Das Publikum konnte mit einem Shuttle-Bus von Ort zu Ort fahren und sich alles überall ansehen und anhören.

Wie kann man sich denn einen „Schulalltag“ im Beat Studio vorstellen, also wie war das organisiert?

Das ging erst abends los, denn am Tag wollte man Ruhe haben, weil oben im Schulhaus Unterricht war und abends ab sechs Uhr konnte man rein. Ab acht Uhr ging es richtig los bis um elf Uhr meist. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir jemals eine Art „Torschlusspanik“ hatten. Man hat irgendwann vernünftigerweise aufgehört, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass es überhaupt eine festgeschriebene Zeit gab, zu der aufgehört werden sollte.

Wie sieht es aus mit dem Thema Wissensvermittlung? Du hast manchen ja auch Komposition beigebracht.

Edgar kam irgendwann mal zu mir und meinte, gern Kontrapunkt lernen zu wollen. Ich habe das sehr gut gekonnt und dann kamen einige zum Lernen, was wir jedoch maximal zwei bis drei Mal durchgehalten hatten. Sie wussten dann immerhin, um was es dort geht. Man könnte sagen, es wäre für sie nicht nötig gewesen, aber das beweist, wie offen und neugierig die waren. Aber vor allem, wie ernst sie mich genommen haben. Ich habe sie auf jeden Fall ernst genommen, das haben sie gespürt. Ich habe sie auch immer wissen lassen, wenn irgendwo ein neues Konzert ist, zum Beispiel im Sender Freies Berlin gab es eine neue Aufführung und sie waren begeistert. Die ganzen Einflüsse waren enorm vielschichtig. Ich habe kein Programm gehabt, bzw. musste kein Programm haben.

Also war es kein Schulbetrieb im klassischen Sinne?

Nein, gar nicht. Es war viel mehr ein Übungslokal mit Austausch – ich möchte fast behaupten, ich habe mehr von denen gelernt als anders herum. Viel mehr war ich Freund, Mitfühlender, Mitdenkender, Impulsgeber und ab und zu ideengebend.

Das Beat Studio begann mit Agitation Free?

Das waren die ersten, da war Christoph Franke noch bei denen.

Später wurden es dann vermutlich immer mehr, weil es sich herumsprach. Es gibt diesen viereinhalb Minütigen Mitschnitt der Berliner Abendschau aus dem Beat Studio, den haben mir Lüül und Lutz Kramer gezeigt. In der ersten Hälfte spielte irgendeine Band mit Sängerin und man sieht den Rolf Bauer herumlaufen und Ansagen machen. In der zweiten Hälfte sieht man Fame (Michael Günther) und ein Interview mit Lutz Kramer, da haben dann Agitation Free gespielt. Da sieht man auch die Eierpappen an den Wänden. Das ist ein richtig historisches Dokument. Viel Filmmaterial aus dem Beat Studio gibt es ja nicht. Sie haben dann also ihre eigene Musik im Studio entwickelt? Und dann kamen auch immer mehr Leute dazu, irgendwann später auch Burghard Rausch und Michael Hoenig usw. Mit Michael Hoenig bist du ja enger zusammen gewesen?

Ja, er war vor allem in der Instrumental-Elektronik engagiert. Er war auch sehr bekannt mit Walter Bachauer. Walter kam eher von der akademischen Seite, hatte ein hervorragendes Musikwissen und war offen für Neues. Später organisierte er ja auch die Metamusik Festivals, wo Michael Hoenig sehr involviert war.

Tangerine Dream und Klaus Schulze haben ja auch auf diesen Festivals gespielt. Auf diesen Festivals waren ja so viele internationale Künstler dabei. Das war sensationell. Alles was Mitte der siebziger Jahre Rang und Namen hatte, ist dort aufgetreten. Walter Bachauer war ja auch dafür bekannt, dass er diesen Weltmusikgedanken entwickelt hat, auch wenn es den damals noch gar nicht gab. Er hat tibetanische Mönche eingeflogen, nur um einen anderen Klang hineinzubekommen. Da warst du von der musikalischen Entwicklung her nicht mit involviert, oder?

Doch, durchaus. Es gab zwei Sachen, die ich mir zuschreiben darf. Die erste ist die: Eines Tages kam Earle Brown, ein Komponist, der mit John Cage in Amerika zusammen war, zu mir und brachte mir ein paar Vinylplatten und sagte zu mir, diese Platten seien etwas für mich. Es sei nicht seine Musik. Es waren alles Musterdrucke bzw. Musterpressungen. Auf den Platten waren Terry Riley und Steve Reich zu hören. Die ersten elektronischen Stücke von Steve Reich zum Beispiel Violin Phase, aber auch Terry Rileys A Rainbow in Curved Air. Diese Stücke haben für Furore gesorgt, damit sind sie bekannt geworden. Ich habe mir diese Platten zuhause angehört, habe sie darauf in das Beat Studio geschleppt und das hat etwas ausgelöst. Das war eine Art Initialzündung. Nicht nur für die Leute im Studio, sondern durchaus auch für andere Komponisten wie Peter Michael Hamel. Ich möchte mich nicht hochpreisen, aber ich war der erste, der diese Probepressungen verbreitete. Somit hat man im Beat Studio diese Minimal-Musik von Steve Reich und Terry Riley zum ersten Mal gehört.

Also das ist beinahe schon Ironie, weil die Bands eigentlich „antiamerikanisch“ eingestellt waren und dass sie alles, was politisch aus Amerika kam, ablehnten, aber diese neue Musik aus Amerika nicht.

Musik ist etwas anderes, Musik kennt keine Grenzen. Sie haben ein Feld bereit gemacht, damit dort etwas Neues wachsen konnte, wobei es in dem Sinne überhaupt nicht neu war, Luc Ferrari hat eine Art Minimal-Musik bereits früher komponiert. Dieses repetitive Element war bei ihm auch schon gewesen, bereits vor Steve Reich. Man sollte nicht behaupten, er hätte es erfunden, ich habe ja auch nichts erfunden. Ich war jedoch der glückliche Empfänger dieser drei Schallplatten und war so klug, dieses „Gift“ im Beat Studio zu verbreiten, was später durch ganz Berlin ging… “

 

Bernd Kistenmacher FERNE ZIELE – Geschichten über die Berliner Schule für elektronische Musik

Deutsche Erstausgabe Mai 2023

Copyright © dieser Ausgabe und aller Texte: Bernd Kistenmacher, Edition Mahlstrom, Berlin

Artikelnr. des Verlages: EM 10001

Seitenzahl: 793

Email: service@edition-mahlstrom.de

Satz, Druck und Bindung: Druckhaus Sportflieger, Berlin

Printed in Germany

ISBN 978-3-00-075096-0

Bezugsquelle: https://www.edition-mahlstrom.de/

Über den Autor:

Bernd Kistenmacher, geb. Oktober 1960 in Berlin, lebt und arbeitet seit seiner Geburt in Berlin und bezeichnet sich selbst als „Mauerkind“. Hauptberuflich ist Bernd Kistenmacher Musiker, der im Bereich der elektronisch-symphonischen Musik arbeitet. Bereits 1984 hat er sein erstes Solo-Album „Romantic Times“ auf Kassette veröffentlicht. Weitere Solo-Alben auf Kassette, LP und CD sind gefolgt. Sein Oeuvre umfasst mehr als dreißig Alben. Seinen Backkatalog findet man heute auf der Internet-Plattform „Bandcamp“. Immer wieder hat Bernd Kistenmacher Konzerte im In- und Ausland gegeben; vorzugsweise in Planetarien, weil diese die ideale Infrastruktur für seine Musik bieten.

Bernd Kistenmacher hat 1986 sein erstes Label Timeless Sounds gegründet, dass in den darauffolgenden Jahren in Musique Intemporelle umbenannt wurde und heute unter dem Namen MIRecords firmiert. Früher veröffentlichte das Label zahlreiche Künstler aus dem Bereich der elektronischen Musik, so auch Klaus Schulze, Manuel Göttsching, Michael Hoenig, Agitation Free, Rolf Trostel und viele andere. Heute veröffentlicht Bernd Kistenmacher auf MIRecords ausschließlich eigene Produktionen.

Bernd Kistenmacher war der erste unabhängige Produzent, der Mitte der Neunziger Jahre und vor dem Siegeszug des Internet die Multimedia-Produktion „The M.I. Rainbow Collection“ produziert und veröffentlicht hat. Schon damals interessierte ihn die Verbindung aus unveröffentlichter Musik und Bereitstellung von Hintergrundinformationen über die jeweiligen Künstler mittels integrierter Datentracks. Damals ein absolutes Novum.

Heutzutage ist Bernd Kistenmacher als freier Autor für diverse Musikmagazine und –Plattformen tätig. 2020 hat er seinen eigenen YouTube Kanal „Freak Out Your Synth“ aufgebaut, auf dem er ausgewählte Synthesizer in Bild- und Ton vorstellt.

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